Hamburg. Daniel Schmidt hat sein zweites Buch über den Kiez und seine Bewohner geschrieben. Ein klarer Fall von expliziter Sprache.
Der Fame, der Ruhm, der war dann irgendwann zu viel. Nach seinem Kiez-Hit „Elbschlosskeller“ kamen Schweizerinnen in nämliche Kult-Kaschemme, um sich von deren Besitzer Daniel Schmidt ein Autogramm aufs Dekolleté kritzeln zu lassen. Erkannt wurde er auch, wenn er mit seinem Sohn im weit entfernten Freizeitpark war. Schmidt war tief auf dem Hamburger Berg verwurzelt – sein Vater „Wodka-Lothar“ Schmidt (pro Schicht: eine Flasche Schnaps) hatte den Elbschlosskeller jahrelang betrieben.
Aber mit Schmidts Buch wurde die Kneipe, die Heinz Strunk als den „Vorhof zur Hölle“ bezeichnet, mehr denn je zum vielfach angesteuerten Ort. Strunk hatte mit seinem Roman „Der goldene Handschuh“ dem schräg gegenüber gelegenen zweiten Absturz-Abyss ein literarisches Denkmal gesetzt. Schmidt zog dann nach, nannte seinen Bericht aber ausdrücklich nicht erfunden: „Kein Roman“.
„Kiez. Kein Roman“: Elbschlosskeller-Wirt lässt Alltagshelden St. Paulis zu Wort kommen
Diese Beteuerung der sogenannten Authentizität ist auch wieder bei „Kiez. Kein Roman“ am Start. Die Perspektive des mittlerweile 38-jährigen Schmidt auf das längst nicht nur nächtliche Geschehen in der 24-Stunden-Kneipe und ihrer Rotlicht-Umgebung weitet sich dabei: Als zusätzliche Stimmen kommen ausführlich andere VIPs und Alltagshelden St. Paulis zu Wort. „Tessi“, der langjährige bürgernahe Wachtmeister von der Davidwache, die Domina Manuela aus der Herbertstraße, Kiezpastor Frank Hoffmann, Eve Champagne aus dem Dragsloch, „Kiez-Ikone“ Michel Ruge; sie alle erzählen einmal mehr die Geschichten, wie sie der Kiez prägte (und sich gleichzeitig ständig veränderte) und wie sie wurden, wer sie sind.
Die schöne Geschichte, dass das harte Pflaster, auf dem Sucht, Kriminalität, Kaputtsein gedeihen wie gut bewässerte immergrüne Pflanzen im Spießergarten, von nur bei Ignoranten unvermuteter Nächstenliebe und Fürsorglichkeit strotzt, tönt dabei im Gleichklang. Befeuert von Impresario Schmidt. Schmidt, der Mitbegründer des St.-Pauli-Hilfsvereins „Wer wenn nicht wir“ ist, wird nicht müde, von Einheit und Familie zu erzählen. Der Elbschlosskeller? Keine Kloake, sondern ein Ort des Sozialen.
Elbschlosskeller-Boss Schmidt wollte Luden an den Kragen
Aber er selbst, dessen Bekanntheit als Tresenheld des Hafenstadtteils in der vielleicht tatsächlich härtesten Kneipe Hamburgs gewachsen war, geriet dann selbst vor die Bugwelle seines noch frischen Ruhms. Buchautor und Kiez-Erklärer, er war wirklich wer. Landete auf einem manischen, paranoiden Egotrip, auf dessen Höhepunkt er eine Ein-Mann-Randale veranstaltete. Schlug auf Freunde ein, wollte Luden an den Kragen, ging „anschließend in den billigsten Puff auf dem Kiez und spielte wilde Sau, hatte mit drei Prostituierten noch drei Stunden lang Sex auf Viagra, bis nichts mehr funktionierte“.
Der Elbschlosskeller-Boss drehte also durch und legt nun nachträglich in Buchform eine Beichte ab. Zu der auch das gehört, was dann geschah. Bei Schmidt wurde eine Psychose diagnostiziert. Und man kann nun nicht anders, als die insgesamt doch auch romantisierende Darstellung, wonach das Problematische der Lebensumstände der Nachtschattengewächse vom Kiez sich etwas relativiert, weil man ja immer so schön zusammen ist, bloßgestellt zu sehen. So gesund kann das alles nicht sein, wenn einer wie Schmidt in der Entgiftungsklinik landet.
Seine Erzählungen vom Kiez fallen in den Bereich Oral History, und indem sein packender Text zuallererst von ihm selbst handelt, behält er auch die Deutungshoheit über das eigene Leben. Schmidt bringt sein Abdriften in die Sucht auch in Zusammenhang mit den mentalen Erkrankungen von Mutter und früh verstorbener Schwester. Um wieder klar zu kommen, nimmt er eine Auszeit in Amerika, einem Ort seiner Jugend.
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Kiezwirt: „Dann kommen die Feierwütigen zum Tanzen, Trinken, Ficken“
Längst nicht alles am Kiez („Die Touris aber besorgen sich immer häufiger billigen Alkohol in den Kiosken, betrinken sich auf der Straße und gehen anschließend nur zum Tanzen und Feiern in Bars und Clubs, ohne dort etwas zu verzehren. ‘Cornern’ nennt man das“) gefällt ihm, aber er weiß um die ewigwährende Bedeutung des Stadtteils: „Sobald es dunkel wird, fängt der Kiez an zu leuchten, dann erwacht das andere St. Pauli, das sündige und verruchte, die Partymeile, dann kommen die Feierwütigen zum Tanzen, Trinken, Ficken“.
„Kiez. Kein Roman“ ist wie sein Vorgänger ein leidenschaftliches, glaubwürdiges Plädoyer für den Kiez und seine Menschen, die Freiheit suchen und wohl auch finden. Das Buch erzählt aber auch bewusst die Geschichte eines Mannes, der weg vom Kiez musste, um sich wiederzufinden. Dass Daniel Schmidt, der Kneipier, Zuhörer, Schnacker, Familienvater, Christ, Hooligan, einer von den „liebenswert Verrückten, Verruchten, Chaotischen und Bekloppten“ des Kiezes ist, behauptet er selbstbewusst. Sein zweites Buch wird ihm, der irgendwann merkte, dass es auch schwer ist, er selbst zu sein, wenn andere sich ein Bild von ihm machen, natürlich dennoch bei der Imagebildung helfen.