Hamburg. Das Inselbuch „Zur See“ versammelt Menschen und Geschichten. Und ist eine Hommage, die ohne Kitsch auskommt. Eine Kritik.

Es gehört nicht viel dazu, ein Erzählwerk mit Sentiment vollzustopfen oder ungebremst nach Wiedererkennbarkeit zu streben. Dann landet man gleich in Klischee und Kitsch. Kitsch macht fast nie Spaß; manchmal vielleicht, in Dingen der Liebe. Da ist ja, streng genommen, alles kitschig. Dörte Hansen, die bereits zwei vielgelobte und noch mehr gelesene Romane über Menschen und ihre Habitate geschrieben hat, widmet sich in ihrem neuen Buch „Zur See“ einer namentlich nicht näher bestimmten Nordseeinsel, und sie tut ziemlich erfolgreich alles, um jeden Gefühlsbrei zu vermeiden. So etwas muss man tatsächlich können!

Im Mittelpunkt steht die Familie Sander. Ganz alter Insel-Adel. Die Männer fuhren zur See. Auch Jens Sander, aber der hatte irgendwann davon genug und auch vom Job als Familienoberhaupt. Wobei er das eigentlich nie war, als abwesender Seemann. Hanne machte zu Hause alles; erzog die Kinder, Ryckmer und Eske. Setzte spät noch ein drittes Kind in die Welt, Henrik. Um die Ehe zu retten. Klappte aber nicht, Jens zog in ein Vogelschutzgebiet, weg von allen Menschen.

Buchkritik „Zur See“ - der neue Roman von Dörte Hansen

Während Hanne den Fremdenverkehr entdeckte und Sommer für Sommer Gäste ins Haus holte. In der Erzählgegenwart von „Zu See“ ist das schon Vergangenheit. Heute hat Jens festgestellt, wie kalt es in seiner kleinen Vogelinselklause immer ist, und dass er eine Tasse Kaffee nicht mehr in der Hand halten kann, ohne dass diese zittert. Und Ryckmer, sein Sohn, war mal der Kapitän von Frachtern. Jetzt reicht es nicht mal mehr für die Fähre zum Festland, weil er säuft und säuft und säuft. Eske arbeitet im Altenheim, und sie verlässt gelegentlich die Insel, um sich von ihrer Daueraffäre ein Tattoo stechen zu lassen. Eske fährt besonders unfreundlich mit ihrem Auto, wenn ihr motorisierte Touristen entgegen kommen. Sie nimmt Gespräche mit den Altenheimbewohnern auf; ihre Geschichten dürfen nicht verloren gehen, damit die Insel selbst nicht verloren geht.

Ja, es gibt viele Bewahrer in diesem Erzählwerk, zum Beispiel auch einen Dänen, der die Sprache der Inselbewohner analysiert. Und es gibt einen Pfarrer, den bedauernswerten Pastor Lehmann, dem eines seiner Schäfchen gemeine Zeilen ins Gästebuch schreibt und dem außerdem die Frau abgängig ist. Sie will unter der Woche auf dem Festland leben, näher bei den Enkeln. Henrik, das jüngste Kind von Hanne und Jens, ist ein frei flottierender Inselmann. Einer, der wohlhabend geworden ist mit seiner Gegenstandskunst, er sammelt das ein, was das Meer anschwemmt und macht daraus Skulpturen. Außerdem ist er Rettungsschwimmer und läuft auch im Winter nur barfuß.

Sie alle leben ihr Leben, das eines im Kleinformat ist: auf der Insel. Außer sie verdienen ihr Geld auf Schiffen. Was das angeht, kann man aber Traumata erleiden, wie das Beispiel des jede Sturmflut fürchtenden Ryckmer zeigt, der seinen Beruf also nicht mehr ausüben kann. Für alle Insulaner stellt sich, mal drängend, mal versteckt, die Frage, ob man aufs Festland ziehen soll. In „Zur See“ ist eines der zentralen Ereignisse in einem Plot, der meisterhaft auf die Details des Alltags zoomt, das tragische Anlanden eines Wals am Strand.

„Zur See“ von Dörte Hansen: Heimat und die Gefahr von deren Verlust

Wer wo wie gestrandet ist, ist eines der Themen dieses Buchs. Dörte Hansen por­trätiert ihre Heldinnen und Helden sensibel, auch die Nebendarsteller. Es geht um Heimat und die Gefahr von deren Verlust. Es geht um die Plage der Urlauber: „Ihre Fragen höchstens einsilbig beantworten. Weil man die Hand, die einen füttert, nicht noch küssen muss.“

Die Welt ist in Aufruhr, aber denke keiner, dass Inselflucht die Lösung sei (und auch nicht die Lektüre eines Inselromans). Kein Idyll existiert ohne die Wahrheit dahinter. Es ist so: Alles in dem Roman könnte so in etwa tatsächlich sein. Und doch ist er ein Werk der Fantasie.

Es ist eine Hommage an das Leben auf Inseln und die Betrachtung eines Menschenschlags, der ungeschönt gezeigt und dennoch auch künftig der Gegenstand romantisierender Projektionen sein wird. Da oben, auf den Inseln, steht man im Wind. Hansens kunstvoll arrangierter, fein und herb zugleich gesetzter Text ist der ultimative Roman für alle, die sich vom Wind peitschen lassen wollen, weil so jeder Ort mit Dach umso heimeliger, schutzversprechender wirkt.