Hamburg. Das Ensemble Resonanz und seine „Artist in Residence“ Annette Kurz wollen das klassische Konzert-Format erweitern. Die Hintergründe.

Was hat ein großes Ei in einem goldenen Käfig mit Musik von Mozart und Alban Berg zu tun? Gute Frage. Aber: falsche Frage. Denn ganz so einfach, so frontal eins zu eins übersetzbar möchte Annette Kurz es sich und ihrem Publikum am Abend des 21. September im Großen Saal der Elbphilharmonie garantiert nicht machen. Kurz ist von Haus aus Kunstgeschichtlerin und Bühnenbildnerin, war von 2009 bis 2019 Ausstattungsleiterin am Thalia, bekannt geworden vor allem durch ihre speziellen Einfälle für Inszenierungen von Luk Perceval – eine Wand aus Kleidung für seinen „Hamlet“, so etwas.

Ein halbwegs branchenüblicher Lebenslauf, jetzt aber interessant gewürzt mit einer genreübergreifenden Aufgabe, die noch reichlich Seltenheitswert hat: Beim Ensemble Resonanz, immer gern für Ausfallschritte ins Unkonventionelle zu haben, ist Kurz für zwei Spielzeiten die erste „Artist in Residence“, die weder ein Instrument spielt noch singt oder dirigiert. Sie soll sichtbar statt hörbar die „Möglichkeiten und Wirkungen szenografischer Mittel“ austesten. Womit als erste Runde Ei und Käfig ins Spiel kommen. Oder eher: zum Spiel des Streicherensembles.

Elbphilharmonie: Ensemble Resonanz verfolgt neuen Ansatz

Die Resonanzler hatten sie kontaktiert, sie wollten die altbekannte Form des klassischen Konzertbetriebs erweitern. Schauen, was geht. Was Kurz dafür vorhat und warum, ist relativ schnell erzählt: „Wir wollen zusammen auf eine Art Forschungsreise gehen“, beschreibt sie ihre Motivation, „ausprobieren, was man mit dem bildnerischen Dasein auf der Bühne machen kann“. Im ersten Moment sei sie durchaus erstaunt gewesen über diesen Ansatz.

Das gab sich dann aber allerdings. „Ganz oft, wenn ich nicht weiterweiß, befrage ich die Kunstgeschichte.“ Die antwortete ihr auch, mit erhellenden Verweisen auf die allerersten Kunstwerke, auf Fundstücke aus Höhlen, kleine Statuetten und Flöten aus Tierknochen. Damit war klar – so neu ist diese Idee nun wirklich nicht. Was sie aber auch nicht schlechter macht.

Architektur der Laeiszhalle soll in Szene gesetzt werden

An fünf Konzertabenden in dieser Saison will Kurz mit fünf Grundsätzlichkeiten experimentieren: eine Skulptur bei der Premiere. Dann ausschließlich Licht, im Kleinen Saal der Elbphilharmonie, mit Schlaglichtern aufs Schlagzeug. Es folgen Projektionen, für Kurz’ Arbeitsmethoden eine echte Neuerung. Danach kommt Bewegung und/oder Kostüm und Maske, das wird sich noch klären. Der Abschluss, dann in der Laeiszhalle, soll deren Architektur mit Licht in Szene setzen. Und verbindender, terminübergreifender roter Faden soll die Skulptur vom Anfang sein (der Käfig auf jeden Fall, womöglich auch das Ei), die Kurz „mitnehmen und weiterentwickeln“ will.

So absolute Musik wie eine Beethoven-Sinfonie wird nicht grundlos „absolute Musik“ genannt, da hätte nichts außer den Ausführenden etwas auf der Bühne verloren, könnte man entgegnen.

„Die Skulptur gehört zum Ensemble“

Kurz’ Antwort ist einigermaßen entwaffnend freundlich: „Ich taste mich so ran. Die Skulptur hat deswegen auch ganz bewusst fast menschliche Proportionen, der Käfig streckt seine Arme nach oben, wie eine Giacometti-Figur.“ Bei den Gesprächen mit dem Ensemble über das Was, das Wie und das Warum war deswegen immer vom 22. Mitspieler die Rede. „Die Skulptur gehört zum Ensemble.“ Kann daher durchaus sein, dass mit ihr im Verlauf eines Konzerts etwas mehr passiert als das Stehen vor Publikum an sich. „Das ist ein Angebot“, Kurz will die Energie ins Zentrum der Aufmerksamkeit kristallisieren, „es ist eine gegenseitige Inspiration, ein Treffen. Es geht mir gar nicht darum, etwas zu dekorieren oder zu verkleiden.“

Also, noch mal: Käfig und Ei, Mozart und Berg? Eine längere Geschichte, abkürzbar durch Verweise auf die biografisch verzwickte Entstehungsgeschichte von Bergs „Lyrischer Suite“. Kann man nachlesen, muss man nicht unbedingt bei Konzertbeginn wissen, würde aber helfen. „Es geht nicht darum, dass das Bild den Ohren etwas wegnimmt. Es gibt sicher einige Menschen, die sich freuen, wenn sie etwas haben, worauf sie herumdenken können, während sie der Musik zuhören.“

Reaktion der Zuschauer kann nicht vorhergesagt werden

Genügt die Musik an sich denn nicht mehr, braucht es derartige Geschmacksverstärker? „Das weiß ich nicht. Das müssen wir ausprobieren. Bei über 2000 Zuhörern gibt es so viele Sensibilitäten, jeder reagiert anders.“ Schmecken und riechen als weitere sinnliche Erfahrungen, das ist bislang in Kurz’ erster Resonanz-/Spielzeit noch nicht eingeplant, aber was derzeit nicht ist, könnte ja noch kommen.

Kunst am Stück, bei dieser Kombination war Hamburg schon vor langer Zeit weit vorn: Anno 1973, vor knapp einem halben Jahrhundert, sorgte der legendär unberechenbare Staatsopern-Intendant Rolf Liebermann mit „Kyldex 1“ für einen Sensationserfolg: Zehnmal hintereinander ausverkauft, Riesen-Debatte. Zur Musik des Electronica-Pioniers Pierre Henry stellte der französische Künstler Nicolas Schöffer riesige, mit rotierenden Spiegeln bestückte Skulpturen für seine „kybernetisch-lumodynamischen Experimente“ auf die Bühne.

Elbphilharmonie: Ein Experiment auf der Bühne

Dazu gab es eine schwer halluzinogene Lightshow, mit viel Kunstnebel und Tanzmitwirkung durch das hauseigene Ballett. Das Publikum erhielt bunte Plastik-Kellen, mit denen über Schneller, Langsamer, Nochmal oder Erklären abgestimmt werden konnte, und nach den Vorstellungen wurde mit den Mitwirkenden auf der Bühne diskutiert. Auch wenn der angesäuerte Kritiker der „Zeit“ damals maulte: „Flimmern allein ist nicht abendfüllend, die Mittel sind schnell durchgespielt“ – das Stück wurde aus dem Stand zum Stadtgespräch. Und 2023 wollen die hochheiligen Bayreuther Festspiele ihren neuen „Parsifal“ mit Virtual-Reality-Brillen aus- und aufrüsten. Das Ensemble Resonanz ist mit seinem Vorstoß also in bester Gesellschaft.

Kurz ist natürlich klar, dass ihre Konzepte weltenweit davon entfernt sind, von einer Ausnahme im Klassik-Angebot zur Regel zu werden. Doch das ist kein Grund, es nicht dennoch anzugehen. „Wir machen das nicht, um den Konzertbetrieb zu revolutionieren“, sagt sie, „wir jammen. Das hat nicht mehr Anspruch als genau das. Wir probieren gemeinsam Sachen aus. Und als Publikum finde ich immer interessant, dabei zuzuschauen, wenn Künstler etwas noch nicht wissen. Was wir tun, ist keine Behauptung, sondern eine Suche.“ Und wer nichts sucht, kann bekanntlich auch nichts finden.

Konzert: 21. September, 20 Uhr „Spindel & Schwindel“. Mozart „Haffner”-Sinfonie und Arien / Berg „Lyrische Suite“. Ensemble Resonanz, Riccardo Minasi (Dirigent), Anna Prohaska (Sopran). Elbphilharmonie, Gr. Saal