Hamburg. 2021 gaben zwei Kiezclubs Pandemieleugnern eine Bühne. Nun sucht einer den Neustart mit den Veranstaltern – funktioniert das?
Sie hatten viele Monate ihre festen Plätze an den Eingängen von Docks und Große Freiheit 36: die „Ausverkauft“-Schilder. Bis zum März 2020 brummte es in Hamburgs beiden größten Clubs, noch zuletzt bei Lotte, Antilopen Gang, Sam Fender, Cage The Elephant, I Prevail, Mighty Oaks und Hämatom kamen 1500 Fans. Dann gingen am Spielbudenplatz und an der Großen Freiheit die Lichter ebenso aus wie in den weiteren Hamburger Clubs und Livebühnen.
Es wurde still um die Hamburger Clubszene, die Hunderte Konzerte absagen und immer weiter verlegen musste, Kurzarbeitergeld beantragen, Hilfskräfte entlassen und in den folgenden Monaten und Jahren mit stetig neuen Hürden und Hemmnissen, Verboten und Auflagen, Überbrückungen und Neustarts kämpfen musste.
Querdenker-Skandal: Plötzlich Plakate an der Docks-Fassade
Bis im Juni 2020 plötzlich Plakate an der Docks-Fassade hingen, einige als krude gestaltetes Word-Dokument ausgedruckt, andere professionell und plakativ gestaltet: Die damals geltenden Corona-Maßnahmen, Gesundheitsrisiken durch Covid-19, die Berichterstattung der dort so genannten „Mainstream-Medien“, ja sogar die Pandemie an sich wurden komplett oder teilweise infrage gestellt.
„Wir haben festgestellt, dass im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie über die Gefährlichkeit als auch über die Angemessenheit der Maßnahmen in den Mainstream-Medien sehr einseitig berichtet wird. Kritische Stimmen, insbesondere aus der Wissenschaft, kommen nur selten oder gar nicht zu Wort. Wir möchten im Rahmen unserer Möglichkeiten alternativen Stimmen Gehör verleihen“, ließ das Docks verlauten – und kassierte 20 Euro Unkostenbeitrag pro Plakat.
2021 folgten neue Plakate
In den sozialen Netzwerken gab es dafür überwiegend Kontra, und Docks-Geschäftsführerin Susanne Leonhard, die den in den 90ern erworbenen schlechten Ruf des Docks über Jahre erfolgreich aufpoliert hatte, wurde nach einer „emotionalen Sitzung“ aus dem Vorstand des Hamburger Clubkombinats entlassen, auch wenn sie sich öffentlich von extremistischen Ansichten distanzierte und die Kommunikation der Aktion als unglücklich betrachtete.
In den Folgemonaten fielen die Plakate, die ab Juli 2020 auf Initiative von Geschäftsführer Mitja Boettger-Soller auch an der Großen Freiheit 36 hingen – Eigentümer beider Clubs ist der Kieler Gastronom Karl-Hermann Günther –, auf dem leer gefegten Kiez nicht auf, bis neue Plakate im März 2021 den Ton verschärften: „Bewaffnet euch“ stand in großen Lettern zu lesen, und klein darunter: „mit Wissen“.
„Corona – ein globaler Staatsstreich“
Dieses Wissen würden Blogger wie der Ex-„Focus“-Journalist Boris Reitschuster, der gern mit verschwörungsmythologischem Geraune um Publikum heischt, oder der immer wieder mit Antisemitismus-Vorwürfen konfrontierte Ken Jebsen (KenFM) vermitteln. Für diese und andere war und ist „Corona – ein globaler Staatsstreich“, ergo: „Halten Sie bitte einen Sicherheitsabstand von mindestens 100 Metern zum Staatsrundfunk und zur gleichgeschalteten Presse.“
Der erwartbare Aufprall der Meinungen und Haltungen knallte gewaltig durch die ganze Popszene. Veranstaltungsfirmen, Plattenlabel, Bands, Künstlerinnen und Künstler, das Hamburger Clubkombinat und nahezu alle namhaften Konzertagenturen wie FKP Scorpio, Karsten Jahnke Konzertdirektion und STP Hamburg Konzerte, die nach eigener Darstellung 90 Prozent des Programms in den Clubs ausmachten, zerschnitten die Tischtücher: „Mit großer und wachsender Enttäuschung haben wir in den vergangenen Monaten beobachten müssen, dass ihr zunehmend gefährlichem und demokratiefeindlichem Gedankengut ein Forum bietet. Spätestens mit indirekten Aufrufen zur Gewalt und dem Verweis auf rechtspopulistische und verschwörerische ,Medien‘, die diesen Namen nicht verdienen, hat unsere Geduld ihr Ende gefunden“, so die Agenturen in einem offenen Brief.
Fronten waren verhärtet
Der entsetzte Kultursenator Carsten Brosda konnte „das Echo der Veranstalter gut verstehen“. Er freute sich, „dass sie so eindeutig Haltung in einer schwierigen Krise zeigen. Eine Musikstadt Hamburg ohne Docks und Große Freiheit 36 kann und mag ich mir trotzdem nicht vorstellen. Insofern hoffe ich, dass bei allem verständlichen Frust auch hier die Vernunft siegt und diese Orte zwar Mythen bleiben, aber nicht mehr Verschwörungsmythen Vorschub leisten.“
Die Fronten waren verhärtet, auch wenn die Clubs „die Wände für die Meinungen von Maßnahmenbefürwortern und Maßnahmenkritikern öffnen“ wollten. Aber statt Rockbands sah man in Docks und Freiheit auf einmal Initiativen wie „Ärzte für Aufklärung“, ein Bündnis von Maßnahmenskeptikerinnen und -skeptikern, Impf-Kritikern und Pandemie-Leugnenden, und Treffen der neu gegründeten Kleinstpartei „Die Basis“.
Alle Konzerte wurden verlegt
Eine merkwürdige Mischung aus Querdenkern, Querulanten und Querfront. Dem Boykott der Konzertagenturen sah Karl-Hermann Günther im Mai 2021 gelassen entgegen: „Ich schaffe das schon allein.“ Günther, der sich jahrzehntelang immer im Hintergrund seiner Hamburger und Kieler Clubs gehalten hatte, zeigte sich plötzlich als treibende Kraft.
Und heute, mehr als ein Jahr später? Alle Konzerte und Shows von FKP Scorpio, Jahnke und den anderen Agenturen wurden aus Docks und Freiheit entweder in das Gruenspan, ins Uebel & Gefährlich, die Markthalle oder die Fabrik verlegt – oder abgesagt. Auch neu angesetzte Auftritte wurden in andere Hamburger Clubs gebucht. Das Reeperbahn Festival verzichtete auf die zwei seinerzeit legendären Adressen.
Große Freiheit 36: "Wir distanzieren uns"
Das Programm in Docks und Freiheit wurde entsprechend übersichtlich, trotz der Aufhebung aller Corona-Beschränkungen. Angesagte Bands waren keine auf den Bühnen zu entdecken, dafür gab es Wrestling- und Box-Abende, Goa-Partys, ein paar Hip-Hop-Shows und hierzulande unbekannte Bands aus Polen, Russland, der Ukraine.
Aber jetzt kommt wieder Bewegung in das Thema. Bereits 2021 gab Mitja Boettger-Soller die Geschäftsführung der Großen Freiheit 36 ab an Benjamin Steinicke. Und vor Kurzem wurde bekannt gegeben, dass die Freiheit mit Benny Dianat einen neuen Betreiber hat, der sich mit einem Statement an die Öffentlichkeit wandte: „Wie die meisten Konzertlocations hat unser Haus zwei turbulente Jahre hinter sich. Neben den – für alle spürbaren – wirtschaftlichen Folgen der Pandemie hat allerdings auch die Reputation der Großen Freiheit 36 durch die letzten zwei Jahre gelitten. Ausschlaggebend hierfür waren vor allem die sogenannten ,Wandzeitungen‘, welche von den vorherigen Betreibern zur Verbreitung von politischen Meinungsäußerungen genutzt wurden. Wir distanzieren uns ausdrücklich von dieser Praxis.“
Hoffnung auf einen Neustart
Er bedauerte die Kontroversen und versprach: „Als übergeordnete Kulturinstitutionen werden die Große Freiheit 36 und der Kaiserkeller zukünftig jedoch keine politischen, ethischen oder moralischen Werte einzelner Akteure und der Geschäftsführung publizieren.“ Er erhoffe sich, die alten Hamburger und internationalen Partnerschaften mit der Musikwirtschaft wieder aufzunehmen.
Die Konzertagenturen und weiteren Branchenpartner, die untereinander viele Monate lang Stillschweigen zu dem Thema vereinbart hatten, antworteten mit der Stimme von Timo Wiesmann, dem Geschäftsführer von Hamburg Music, der Interessenvertretung von 120 Musik- und Medienbetrieben: „Wir (…) begrüßen den Wechsel der Betreiberstruktur bei der Großen Freiheit 36 und beim Kaiserkeller. Das zu diesem Anlass veröffentlichte Statement des neuen Inhabers Benny Dianat macht uns Hoffnung, dass ein Neustart gelingen kann – denn auch wir wünschen uns, an die freundschaftliche und erfolgreiche Zusammenarbeit der letzten Jahrzehnte anknüpfen zu können.“
Große Freiheit soll wieder Ort für Konzerte werden
Die Große Freiheit 36 soll jetzt wieder „an das einzigartige musikalische Erbe der bedeutenden Livemusik-Venues Große Freiheit 36 und Kaiserkeller anknüpfen. Wir denken, dass dies im Sinne aller Beteiligten ist – vor allem für die zahllosen Hamburgerinnen und Hamburger, die mit diesem Ort Erinnerungen an viele großartige Kulturerlebnisse verbinden, sowie für die Musikmetropole Hamburg insgesamt.“ Karl-Hermann Günther bleibt zwar Eigentümer des Gebäudes an der Großen Freiheit, soll aber keinen Einfluss mehr auf das Tagesgeschäft haben.
- Große Freiheit 36 erneuert umstrittene Wandzeitung
- Verschwörung? Senator hofft auf Vernunft von Kiez-Clubs
- Wegen Corona: Broilers haben ein Herz für die Astra Stube
Das reicht den Konzertveranstaltenden offensichtlich, um die Freiheit wieder in den Schoß der Hamburger Popfamilie aufzunehmen. Bleibt das Fragezeichen Docks/Prinzenbar. Hier herrscht weiterhin Schweigen bei allen Beteiligten und Betroffenen, bei Konzertagenturen und beim Clubkombinat.
Clubs in Hamburg: Eine schwere Zeit bricht an
Niemand äußert sich öffentlich. Mehr als das Gemunkel, dass zwischen Docks-Chefin Susanne Leonhard und Eigentümer Karl-Hermann Günther kein Blatt Papier passe, war kürzlich bei Hintergrundgesprächen während der Verleihung der Club Awards im Schrödingers nicht zu vernehmen.
Aber unabhängig vom jeweiligen Wertekanon der Clubs werden harte Monate kommen. Kostenexplosion und Publikumsmangel machen allen Hamburger Bühnen zu schaffen. Wann, wie und auch: ob der Neustart kommt? Zukunftsmusik.