Hamburg. Die Schlagersängerin Vicky Leandros hat Grund zum Feiern. Eine Gratulation von Literaturhaus-Chef Rainer Moritz.

Wer sich für den Eurovision Song Contest begeisterte, als er noch Grand Prix Eurovision de la Chanson hieß, weiß, dass auch unter den Siegertiteln ein klares Ranking besteht. Da sind jene Songs, die nach wenigen Jahren meist nicht zu Unrecht in der Mottenkiste verschwinden, und da gibt es jene All-Time-Favourites, die zu zeitlosen Hymnen des Wettbewerbs werden. Der – vermutlich – 1952 auf Korfu geborenen Vicky Leandros gelang 1972 ein solches Kunststück, als sie sich, für Luxemburg an den Start gehend, in Edinburgh mit „Après toi“ gegen die New Seekers und Mary Roos durchsetzte und ihren ersten Welterfolg feierte, der auch in der deutschen Version „Dann kamst du“ in den Charts hoch einstieg.

Vicky Leandros’ Karriere hatte – als Vicky – schon einige Jahre zuvor begonnen. Früh nach Hamburg gekommen und von ihrem Vater Leo Leandros produziert, debütierte sie 1965 mit der frechen, unkonventionellen Single „Messer, Gabel, Schere, Licht“, ehe sie zwei Jahre später mit „L’amour est bleu“ erstmals beim ESC an den Start ging und einen respektablen vierten Platz erreichte, obgleich ihr Make-up so aussah, als hätte Elizabeth Taylor Hand angelegt. Schon bald festigte sie ihr Image, das früh einen großen Wiedererkennungswert bekam. Aufwändig frisiert und mit leicht verhangenem, dezent melancholischem Augenaufschlag trat sie vor ihr Publikum und avancierte nach Nana Mouskouri zum eindrücklichsten Griechenland-Export im deutschen Schlagerbusiness.

Vicky Leandros zum 70. Geburtstag: Rainer Moritz gratuliert

Zu ihrem Markenzeichen wurden kraftvoll vorgetragene, an alle Herzkammern appellierende Balladen, zu denen neben „Après toi“ auch „Ich hab die Liebe geseh’n“ und „Ich liebe das Leben“ gehörten. Noch 1998, als die Schlagerszene durch Guildo Horn gerade wachgeküsst worden war, erlebte sie mit ihrer Version des „Titanic“-Filmhits „Weil mein Herz dich nie mehr vergisst“ ein Comeback in diesem Genre.

Aus Hitparaden und Fernsehshows war die fragile Sängerin in den 1970er-Jahren nicht wegzudenken, doch der Hartnäckigkeit ihres Vaters war es zu verdanken, dass sich ihr größter Erfolg nach einem radikalen Imagewechsel einstellte, der sich von der mediterranen Romantik ihrer früheren Lieder verabschiedete. 1974 griff Leo Leandros auf ein altes Soldatenlied zurück und machte zusammen mit Texter Klaus Munro daraus den von ungewöhnlichen Fanfarentönen durchsetzten, leicht ironischen Nummer-1-Song „Theo, wir fahr’n nach Lodz“. Weitere Hits, die auffordern, polnische Städte aufzusuchen, kennt die deutsche Popgeschichte nicht.

Vicky Leandros blickte über den deutschen und griechischen Tellerrand

So sehr sich das Schlagergeschäft mit dem Aufkommen der Neuen Deutschen Welle veränderte, so geschickt behauptete sich Vicky Leandros. Sie blickte über den deutschen und griechischen Tellerrand hinaus, hatte weltweit Erfolge, die dazu führten, dass sie bis heute über 55 Millionen Tonträger verkauft hat, blieb ein Liebling der Boulevardpresse, vor allem als sie ihren zweiten Mann Enno von Ruffin heiratete, zwei Töchter bekam, sich auf vielen Ebenen für Kinder in Not einsetzte, zeitweilig sogar als Kultursenatorin in Berlin und Hamburg gehandelt wurde und zuletzt das persönlich gehaltene Kochbuch „Ein Hoch auf das Leben“ veröffentlichte.

„Weg vom Fenster“ war Vicky Leandros im Gegensatz zu vielen ihrer Kolleginnen und Kollegen nie, was nicht zuletzt mit ihrem breiten musikalischen Repertoire zu tun hat, das sie wenn nicht zu einem Weltstar, doch auf jeden Fall zu einem internationalen Star machte. Welche ihrer Lieder außer „Après toi“ für die Ewigkeit sind, lässt sich schwer sagen. Kanonisierungen brauchen ihre Zeit. Besonderes Geschick zeigte Vicky Leandros immer darin, große Erfolge anderer auf Französisch oder Englisch zu covern und sie eigenständig zu interpretieren. Wenn sie Bernd Clüvers „Der Junge mit der Mundharmonika“ markant schmalzärmer als „Mouth Organ Boy“ singt, Karats „Über sieben Brücken“ zu „Tu as sept ponts à traverser“ oder Drafi Deutschers „Guardian Angel“ zu „À l’est d’Éden“ macht, spürt man, wie ertragreich es sein kann, neuen Wein in alte Schläuche zu füllen.

Und welches Lied werde ich mir anhören, wenn die treue Wahlhamburgerin Vicky Leandros ihren 70. Geburtstag begeht? Die Antwort fällt leicht: Mort Shumans „Le lac Majeur“ (deutsch: „Lago Maggiore im Schnee“) soll es sein, denn erst in ihrer Version bekommt es seinen wahren, großen traurig-winterlichen Glanz. Danke, Vicky Leandros.

Rainer Moritz leitet das Literaturhaus Hamburg. 2017 veröffentlichte er bei Reclam den Band „Schlager. 100 Seiten“.