Hamburg. Der Universalexperte Rainer Moritz ist nicht selbst Autor sondern auch Chef des Hamburger Literaturhauses. Ein Gespräch.
Heute ist in unserer Reihe „Entscheider treffen Haider“ ein Roman- und Sachbuchautor, ein Literaturkritiker, ein Übersetzer, ein Fußballfan, ein Schlagerexperte, der Vizepräsident der Marcel Proust Gesellschaft und der Chef des Hamburger Literaturhauses zu Gast. Mit einem Satz: Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider spricht mit Rainer Moritz über die Frage, wie das alles zusammenpasst, ob Literaturkritiker überhaupt arbeiten, wieso er selbst Liebesromane schreibt – und wer in der Literatur den schlechtesten Sex hat ... Das komplette Gespräch hören Sie unter www.abendblatt.de/entscheider.
Das sagt Rainer Moritz über …
… die Frage, wie Fußball, Schlager und Marcel Proust zusammenpassen:
„Ich bin tatsächlich der einzige Literaturhaus-Leiter in Deutschland, der auch als Schlagerexperte fungiert, ich kenne mich also nicht nur mit Proust, sondern auch mit Helene Fischer aus. Es war bei mir komischerweise immer so, dass ich versucht habe, unterschiedliche Dinge zu machen, nicht weil ich es mir vorgenommen habe, sondern weil sie mich interessiert haben.
Das war früher gar nicht einfach, damals haben Literaturexperten am Sonnabend die „Sportschau“ nur mit heruntergelassenen Rollos gesehen … Zum Glück ist das inzwischen anders. Heute habe ich bei Welt- und Europameisterschaften den Eindruck, dass man im Feuilleton der „FAZ“ nur arbeiten darf, wenn man vertiefte Fußballkenntnisse hat …“
… den klugen Satz eines Fußballtorwarts:
„Er stammt von Petar Radenkovic, meinem Lieblingstorwart, und lautet: „Es gibt keine unhaltbaren Bälle.“ Das war und ist für mich ein Schlüsselsatz, der mich schon als kleiner Junge fasziniert hat und der mich immer geleitet hat. Man kann auch unhaltbare Bälle halten, wenn man an der richtigen Stelle steht.“
… seine Zeit als Schiedsrichter:
„Mein Bruder sagt immer: Schiedsrichter und Literaturkritiker, das passt wunderbar zusammen. Was das über meine Persönlichkeit aussagt, überlasse ich lieber anderen. Ich war leidenschaftlich gern Schiedsrichter. Und ein Literaturkritiker macht ja das Gleiche: Er fällt Urteile, er muss meinungsstark sein und darf sich nicht einschüchtern lassen. Dünnhäutig darf man in keiner der Rollen sein.“
… Kriterien, nach denen Literaturkritiker Bücher bewerten:
„Das setzt sich aus verschiedenen Bausteinen zusammen. Man hat sich einen Fundus an Büchern im Lauf der Jahre angelesen, man weiß, was es schon mal gegeben hat, was neu und was alt oder vielleicht sogar geklaut ist. Dazukommen stilistische Kriterien und, wie es ein Kollege einmal gesagt hat, auch das Bauchgefühl. Ich lese übrigens jedes Buch, das ich bespreche, bis zum Ende, alles andere wäre nicht seriös.
Es wird Kritikern ja gern unterstellt, dass sie Bücher nur überfliegen, das macht man nicht. Einen Roman kann ich nur beurteilen, wenn ich den Schluss lese, und es gehört für mich zum Respekt gegenüber der Autorin, die daran jahrelang gesessen hat, bis zum letzten Satz zu lesen. Wenn jemand aus Vergnügen liest, ist das natürlich etwas anderes, wobei ich jedem raten würde, sich bei einem sperrigen Buch auch einmal durchzubeißen und es nicht nach 30, 40 Seiten wieder wegzulegen.“
… die Frage, ob Literaturkritiker überhaupt arbeiten:
„Es ist ein Privileg, wenn man im Beruf das tun kann, was man in der Freizeit sowieso am liebsten macht. Insofern empfinde ich meine Arbeit wirklich nicht als Arbeit, und ich kann nicht sagen, wo der Job beginnt und wo die Freizeit. Aber was man nicht unterschätzen darf, ist, dass es lange, komplexe Bücher gibt, für die man viel Zeit und Geduld braucht und die sehr mühevoll sein können. Manchmal fluche ich über Rezensionen, die ich angenommen habe. Ich nehme mir in den Urlaub übrigens bewusst immer ein paar Bücher mit, die ich wirklich nur privat lese – sonst würde ich ja verrückt werden …“
… „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust:
„Dieser Roman ist eines der Bücher, von denen viele Menschen sagen, dass sie sie in ihrem Ruhestand lesen wollen. Für mich war Proust schon als Schüler faszinierend. Wer sich auf diesen Roman einlässt, der sehr langsam und mit vielen Abschweifungen auf mehr als 4000 Seiten erzählt wird, wird es nicht bereuen. Proust nötigt einen, sich zu konzentrieren und auf etwas einzulassen, das tut uns allen in der Internet-Zeit ganz gut. Vor allem, wenn Sie jemand sind, der seine Wahrnehmung schulen will, das kann man mit Proust perfekt.“
… das Schreiben und das Lesen:
„Beides ist bei mir nicht voneinander zu trennen. Wenn man selbst viel schreibt und viel liest, muss man aufpassen, dass man sich von anderen Autoren nicht zu stark beeinflussen lässt. Wer zwei Jahre Proust am Stück liest, läuft Gefahr, auch ein bisschen wie er zu schreiben. Ich schreibe und lese jeden Tag bunt gemischt. Das Schreiben ist natürlich oft auch eine Wahrnehmungsveränderung. Man sieht einen Gedanken klarer, wenn man ihn niederschreibt. Geschrieben und herausgegeben habe ich rund 45 Bücher, gelesen habe ich Tausende, die kann man nicht mehr zählen.“
… die eigene Bibliothek:
„Meine Frau hat mir die klare Maßgabe erteilt, dass ich nur Bücher mit nach Hause nehmen und dort aufbewahren darf, von denen ich überzeugt bin, dass ich sie noch einmal anfasse. Ich habe noch etwas Platz, aber nicht mehr viel, weil ich kein Mensch bin, der Bücher weggibt. Ein Buch, das das Recht erworben hat, bei mir zu Hause zu stehen, darf dort auch bleiben. Bücher sind ja wie Leuchttürme oder Bojen in der eigenen Biografie. Wie viele es genau sind, weiß ich nicht, aber in den fünfstelligen Bereich geht es sicher. Und ich diskutiere gerade mit meiner Frau, ob wir die Einbauregale noch einmal in Richtung Decke verlängern. Das würde mir viele Sorgen nehmen. Grundsätzlich weiß ich übrigens immer, wo was steht.“
… Liebesromane wie „Sophie fährt in die Berge“, die er selbst geschrieben hat:
„Mein Maßstab war immer der: Das soll keine Prosa sein, die für einen Literaturpreis infrage kommt, sie soll aber auch nicht peinlich sein. Sie können sich denken, dass die lieben Kritikerkolleginnen gedacht haben: Jetzt schreibt er auch noch Liebesromane. Aber das hat mich nie gekümmert. Mich hat es immer interessiert, die Perspektive zu wechseln und mal einen Roman aus der Sicht einer Frau zu schreiben. Ich habe sowieso in meinem Berufsleben mehr mit Frauen als mit Männern zu tun gehabt, die Verlags- und Buchszene ist überwiegend weiblich.“
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… Bestsellerlisten:
„Es ist immer wieder erstaunlich, dass auf den Bestsellerlisten nicht nur Schrott steht. Es ist sehr erfreulich, dass gerade in den vergangenen zehn Jahren dort viele Bücher mit literarischem Anspruch gelandet sind.“
… seine Lieblingsbücher und Autoren:
„Proust und Gustave Flaubert mit „Madame Bovary“ gehören sicher dazu, aber auch Georges Simenon mit „Das blaue Zimmer“ und Karen Duve mit dem „Regenroman“. Ich habe über den schwäbischen Autor Hermann Lenz promoviert, den ich bis heute gern lese. Allein schon Titel wie „Der Kutscher und der Wappenmaler“ – da ist man doch gleich in einer versunkenen Welt.“
Rainer Moritz – ein Fragebogen
Hamburger Abendblatt: Was wollten Sie als Kind werden und warum?
Rainer Moritz: Koch, Sportreporter, Lehrer – in dieser Reihenfolge. Die Wünsche entsprachen altersbedingten Neigungen. Geworden bin ich davon nichts, wobei ich mir bis heute von allem, was zu diesen Berufen gehört, etwas bewahrt habe.
Was war der beste Rat Ihrer Eltern?
Moritz: Mir keine expliziten (Lebens-)Ratschläge zu geben, sondern darauf zu vertrauen, dass ich nichts Grundfalsches tun würde.
Wer war beziehungsweise ist Ihr Vorbild?
Moritz: Vorbilder im engen Sinn hatte und habe ich keine, als Kind Fußballtorwart Petar Radenkovic vom TSV 1860 München.
Was haben Ihre Lehrer/Professoren über Sie gesagt?
Moritz: Zum Glück bekommt man das meistens nicht mit. Vielleicht so etwas wie „fleißig und zuverlässig ist er ja.“
Wann und warum haben Sie sich für den Beruf entschieden, den Sie heute machen?
Moritz: Die hauptberuflichen Jobs meines Lebens habe ich nie dezidiert angestrebt. Es ergaben sich erfreulicherweise mehrmals Gelegenheiten, die ich dann – wenn sie mir passend erschienen – beim Schopf ergriffen habe. Es hätte aber alles ganz anders kommen können ...
Wer waren Ihre wichtigsten Förderer?
Moritz: Meine Eltern, die mich meistens machen ließen, eine Handvoll Lehrerinnen und Lehrer – Roland Hermann, Helga Scheffer, Dieter Rath –, einige Zeitungsmenschen und Verleger sowie Sigmar Martikke, der meinen Talenten als Fußballschiedsrichter vertraut hat ... long ago.
Auf wen hören Sie?
Moritz: Auf meine Frau zum Beispiel, auch wenn sie sich vermutlich wünscht, dass ich es öfters täte.
Was sind Eigenschaften, die Sie an Ihren Chefs bewundert haben?
Moritz: Loyalität, Verlässlichkeit, Ruhe im Sturm, Uneitelkeit.
Was sollte man als Chef auf keinen Fall tun?
Moritz: Kolleginnen und Kollegen in den Rücken fallen, um selbst den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
Was sind die Prinzipien Ihres Führungsstils?
Moritz: „Natürliche Autorität“ hätte ich, stand in einem frühen Arbeitszeugnis. Vielleicht habe ich die wirklich, und ich vermeide es, Kolleginnen und Kollegen in den Rücken zu fallen, um ...
Wie wichtig war/ist Ihnen Geld?
Moritz: Wenn man nicht aus einem Elternhaus stammt, in dem Geld keine Rolle spielt, ist man wie ich vielleicht zeitlebens darauf bedacht, seine Euros beisammenzuhalten. Zudem bin ich Schwabe. Sicherheitshalber spiele ich Lotto.
Was erwarten Sie von Ihren Mitarbeitern?
Moritz: Loyalität, Offenheit, immensen Arbeitseifer und die Fähigkeit, bei manchen meiner Flapsigkeiten Gnade vor Recht ergehen zu lassen.
Worauf achten Sie bei Bewerbungen?
Moritz: Auf das richtige Maß an Selbstanpreisung und auf die Kommasetzung.
Duzen oder siezen Sie?
Moritz: Ich bleibe am Arbeitsplatz fast immer beim Sie. Kampfduzerei ging mir seit jeher gegen den Strich. Zwischen dem Du und dem Sie zu variieren schafft viel mehr Nuancen. Manche Menschen möchte ich auf keinen Fall duzen.
Was sind Ihre größten Stärken?
Moritz: Puh, da fragen Sie den Falschen ... vielleicht eine nicht ganz langsame Auffassungsgabe, Konsequenz und natürlich ein schwäbisch grundierter Fleiß.
Was sind Ihre größten Schwächen?
Moritz: „Ungeduld“ soll man nicht sagen, habe ich mal gelesen, das sei wohlfeil. Möglicherweise neige ich mitunter zu einer gewissen Oberlehrerhaftigkeit.
Welchen anderen Entscheider würden Sie gern näher kennenlernen?
Moritz: Jürgen Klopp.
Was würden Sie ihn fragen?
Moritz: Warum wollten Sie nicht Nachfolger von Joachim Löw als Trainer der deutschen Nationalmannschaft werden?
Was denken Sie über Betriebsräte?
Moritz: Im Literaturhaus gibt es keinen, in den Verlagen, für die ich gearbeitet habe, war das eine gute Selbstverständlichkeit.
Wann haben Sie zuletzt einen Fehler gemacht?
Moritz: Ein Paar rote Schuhe gekauft zu haben, obwohl ich schon zwei Paar rote Schuhe besitze. Vielleicht erweist sich das aber noch als richtiger Entschluss ...
Welche Entscheidung hat Ihnen auf Ihrem Karriereweg geholfen?
Moritz: 1994, in meiner Berliner Wohnung sitzend, aus einem Impuls heraus einem Stuttgarter Verleger brieflich mitgeteilt zu haben, dass ich womöglich der Richtige wäre, um die Leipziger Dependance seines Verlages nach vorne zu bringen.
Wie viele Stunden arbeiten Sie in der Woche?
Moritz: Da Berufliches und Privates bei mir so eng verbunden sind wie die Zutaten einer perfekten Rindsroulade, kann ich das nicht beziffern. Ich arbeite sehr viel, empfinde das aber oft nicht als Arbeit.
Wie viele Stunden schlafen Sie (pro Nacht)?
Moritz: 6 ½ müssen reichen.
Wie gehen Sie mit Stress um?
Moritz: Wie ich es in Hermann Hesses „Glasperlenspiel“ vor vielen Jahren gelesen habe: mehrmals tief durchatmen – und eine Weile auf die Alster schauen (was bei Hesse nicht stand).