Hamburg. Ein Gespräch mit der US-amerikanischen Dirigentin über Ablehnung und andere Karriere-Hindernisse, Bernstein, Beethoven und Baltimore.
Sie war immer wieder die erste, ist immer wieder die bislang einzige. Klar, dass Marin Alsop von dieser Verkürzung nur noch mittelbegeistert ist. Schon als kleines Mädchen wollte sie Dirigentin werden. Das hat bestens geklappt, war aber auch nicht einfach. Ein Gespräch mit der US-amerikanischen Dirigentin über Ablehnung und andere Karriere-Hindernisse, über Bernstein, Beethoven und Baltimore.
Hamburger Abendblatt: Was über Sie praktisch immer erwähnt wird: Dass Sie mit neun Jahren in einem Konzert waren, Leonard Bernstein dirigierte, und Sie erst sich und dann allen anderen sagten: Das will ich auch. Aber wann haben Sie es zum ersten Mal bereut, Dirigentin geworden zu sein?
Marin Alsop: Bereut? Niemals.
Und wie ist es mit der Erkenntnis, dass es viel doch viel schwerer ist, als Sie gedacht hatten?
Alsop: Das ist ein Thema meines Lebens. Es war kein einfacher Weg, erst recht nicht, wenn man noch jung ist. Den kreativen Prozess, sein eigenes Schicksal, das muss man selbst erschaffen. Klar, es gibt Schulen, aber man kann noch so gut ausgebildet sein und es gibt dennoch keine Garantie, dass man vorankommt.
Können Sie sich noch an das erste Konzert erinnern, das sich für Sie als Dirigentin - und Ex-Geigerin - durch und durch richtig anfühlte?
Alsop: Als ich vor ein Orchester trat, da war mir sofort klar: Genau das will ich. Das fühlt sich wie Zuhause an, natürlich und richtig. Natürlich war ich sehr dem Geigenspiel verbunden, aber das Dirigieren fühlte sich noch mehr nach mir an. Diese ureigene Anziehungskraft habe ich nie angezweifelt.
Was ist das Beste – und was das Schlimmste – an Ihrem Job? Die Pauschalantwort wäre womöglich: die Orchester.
Alsop: Nein…! (lacht) Das Beste ist natürlich die Musik. Wenn man mitten in einer Mahler-Sinfonie ist, alle sind auf einer Wellenlänge und man spürt die Energie des Publikums. Nichts ist besser. Am schlimmsten ist das Reisen, für so lange Zeit nicht zuhause sein können. Nach einer Balance dieser beiden Extreme suche ich noch.
Ihr Vater, ein Geiger, soll Ihnen als kleines Mädchen eine Schachtel voller Taktstöcke gegeben haben, zum Üben. Und weil Ihre Geigenlehrerin gesagt hatte: Mädchen dirigieren nicht.
Alsop: Stimmt. Das war eine sehr ruhige, aber starke Geste von ihm. Als ich die Schachtel am Frühstückstisch öffnete, war mir noch klarer als ohnehin: Ok, meine Eltern unterstützen mich.
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War es schwer, sich endgültig von Ihrer Geige zu verabschieden?
Alsop: Das war keine Entscheidung, die über Nacht fiel. Ich spielte Jazz und mit meiner Swing-Band, aber irgendwann blieb nicht mehr genug Zeit zum Üben, um mein Niveau zu halten; irgendwann habe ich sie an eine Kollegin verliehen und das war es dann.
Dirigenten sagen gern, das Orchester so viel auch ohne einen Dirigenten erreichen können – aber sie sollten es lieber nicht tun. Wie sehen Sie das, was ist Ihre Hauptaufgabe?
Alsop: Es kommt auch auf das Repertoire und die Orchestergröße an, wie sehr man gebraucht wird. Aber grundsätzlich ist es so, als brächte man eine Gruppe wundervoller Schauspieler zusammen und gibt ihnen ein Stück. Jeder von ihnen könnte seine Rolle spielen. Aber was wäre die Vision des Stücks? Ohne jemanden, der im Sinne des Komponisten das größere Ganze im Blick hat, ist es sehr schwer, daraus für das Publikum ein überzeugendes Erlebnis zu erschaffen. Ich bin also vor allem die Botschafterin und Anwältin des Komponisten, um dessen Geschichte rüberzubringen. Ich habe dafür zu sorgen, dass das Orchester sich bestmöglich darstellt.
Haben Sie an diesem Punkt Ihrer Karriere noch Idole?
Alsop: Mit Leonard Bernstein hatte ich das größte denkbare Exemplar, daher glaube ich, dass ich darüber hinweg bin (lacht). Seine Präsenz spüre ich nach wie vor, immer.
Gerade wird für Netflix ein Biopic über ihn produziert. Werden Sie sich den ansehen oder lieber nicht?
Alsop: Bradley Cooper, der ihn spielt, ist ein guter Freund, ich bin gewissermaßen dabei, während der Film entsteht, berate aber in keinster Weise. Er macht das unglaublich gut, das ist für ihn ein wirklicher Liebesbeweis. Auf den Fotos vom Dreh, die er mir immer wieder schickt, sieht alles fantastisch aus. Abwarten also! Wie er in einer Szene die Zigarette hält… genauso wie Bernstein.
Wenn ich damals in Ihrer Haut gesteckt hätte, mit Bernstein als Lehrer, ich wäre wahrscheinlich nach zwei Minuten gestorben.
Alsop: Tja, das war der Trick. Man musste immer versuchen, ruhig zu bleiben und nicht komplett durchzudrehen. In seiner Nähe zu sein, war eine wirklich monumentale Erfahrung.
Wann sind Sie bei Proben als Dirigentin gefährlicher: Wenn sie sehr laut werden – oder wenn Sie ganz leise und wortkarg werden?
Alsop: Eine große Herumschreierin bin ich generell nicht. Aber wenn ich sehr ernst werde, weiß ein Orchester: Ok, wir müssen reden. Alle ein, zwei Jahre versuche ich, einen gesunden Ausraster zu produzieren, weil es wichtig ist, sich manchmal gehen zu lassen. Insbesondere im Interesse der Musiker, wenn sie missbraucht werden und ich das nicht billige. Hin und wieder zu toben hat seine Vorteile. Das geht aber auch immer schnell wieder vorbei.
Was macht Ihnen mehr Spaß: ein kleiner Haydn oder eine dieser riesigen Mahler-Sinfonien?
Alsop: Die Dirigenten-Krankheit habe ich natürlich in mir: Größer ist immer besser (lacht). Mahler Acht? Liebe ich! Natürlich kann man eine Haydn-Sinfonie genießen, aber das Orchester braucht einen da nicht so sehr wie bei einem großen Mahler.
Mit welchem Repertoire sind Sie Ihrer Meinung nach besonders gut?
Alsop: Zuallererst: Alles, was sehr rhythmisch ist, liegt mir sehr. Dann etwas aus der Spätromantik, vielleicht eine Sinfonische Dichtung von Strauss. Und womöglich etwas Neues. Mir gefällt es, von den Klängen unserer Zeit ausgehend, Brücken in die Vergangenheit für das Publikum zu bauen.
Irre ich mich, oder sind Sie vor allem eine Konzert- und weniger eine Opern-Dirigentin?
Alsop: Nein, das stimmt schon. Ich mag Oper sehr. Aber der Prozess, so ein Stück zusammenzubauen, kommt für mich nicht schnell genug voran. Sechs Wochen lang der Farbe beim Trocknen zusehen… ich werde dann zu unruhig, ich muss mich im Leben schneller bewegen. So bin ich einfach. Konzertante Opern machen viel Spaß und haben ihre eigenen Herausforderungen, aber man kann auch schneller zur Musik kommen.
Die „Washington Post“ schrieb über Sie: „Wenn Marin Alsop etwas getan hat, dann höchstwahrscheinlich, weil ich jemand gesagt hatte, sie könne das nicht.“ Sie sind also wirklich stur.
Alsop: Ja, damit haben Sie wohl Recht. Sehr. Ich bin hartnäckig, lasse mich nicht schnell entmutigen und nehme die Dinge nicht allzu ernst. Um dem Leben mit Sturheit zu begegnen, braucht es ein gutes Gespür für Humor. Hartnäckigkeit ist eine wichtige Eigenschaft, denn als Künstler müssen wir uns Tag für Tag zum Studieren, Denken und Träumen motivieren.
Ständig ist in Ihrer Biografie davon die Rede, dass Sie irgendwo mit irgendwas die erste Frau waren. Toll. Aber wäre nicht toller, wenn Sie auch mal die zweite oder dritte gewesen wäre, weil es normaler geworden ist?
Alsop: Es ist schon etwas ermüdend und ärgerlich, das stimmt. Ich hatte es ja nie darauf angelegt, „die erste“ zu sein. Das sind nur Fakten, keine wie auch immer gearteten Leistungen. Für mich ist es am wichtigsten, endlich viele Frauen zu sehen, die Möglichkeiten erhalten und erfolgreich sind. Vor 20 Jahren habe ich ein Förderprogramm für Dirigentinnen gegründet. Die Teilnehmerinnen haben sich alle so gut entwickelt, sie sind inzwischen bei anderen Gelegenheiten die ersten. Das erfreut mich wirklich sehr.
Verstehen Sie mich nicht falsch, aber es gab auf Ihrem Karriereweg gleich vier große Hindernisse: Sie waren jung, sind US-Amerikanerin, eine Frau und lesbisch. Vier Gründe, weswegen viele Männer ganz einfach sagen konnten: Danke, der nächste bitte.
Alsop: Wahrscheinlich gab es noch viel mehr als nur diese vier Gründe… (lacht). Das „jung“ hat sich leider inzwischen erledigt. Dafür habe ich jetzt ein anderes Etikett: die „ältere Frau“, das ist noch übler für Frauen. Amerikanerin zu sein, das war interessant – keines unserer großen Orchester wird von einer Frau geleitet. Eine Frau zu sein, das ist vielleicht jetzt ein Vorteil. Homosexuell zu sein, das ist nur ein weiterer Fakt. Einen Moment lang war es vielleicht beliebt, aber jetzt, nachdem die USA (mit der Entscheidung des Supreme Court zum Thema Schwangerschaftsabbruch, d. Red.) beschlossen haben, sich zurück ins viktorianische Zeitalter zu begeben, bin ich mir nicht sicher, wie es damit weitergeht.
Was passiert, wenn Sie jemand „Maestra“ nennt?
Alsop: Mir ist das immer noch lieber als „Mam“. Neulich, in einem großen amerikanischen Konzerthaus, sprach mich der Chef der Bühnentechnik ständig so an, und ich meinte zu ihm, er könne mich meinetwegen auch Maestro nennen, aber ganz bestimmt nicht „Mam“.
Als Sie Chefdirigentin in Baltimore werden sollten, hatte das Orchester ganz eindeutig etwas dagegen. Aber Sie setzten sich durch und blieben 14 Jahre in dem Job. Wie haben Sie das geschafft, sie von sich zu überzeugen?
Alsop: Es war nicht das komplette Orchester, nur einige Mitglieder, die viel Einfluss zu haben schienen. Ich kannte sie schon durch Gastdirigate, das lief immer prima. Daher wusste ich, dass sie in ihrem Inneren nicht so fühlten. Aber mir war auch klar, dass sie nicht auf mich so reagierten, sondern auf die Wahrnehmung von mir. Damals gab es viele interne Auseinandersetzungen, das wurde mir sofort klar. Und ich konnte sehen, dass dort schnelle Heilung notwendig war. Also ging ich zu den Musikern, bevor ich unterschrieb, und sagte ihnen: Ich werde diesen Job nicht annehmen, wenn wir nicht eine Möglichkeit der Zusammenarbeit finden. Dann legte ich ihnen einen Plan vor, um einige ihrer Probleme zu bereinigen. So ging es los. Ich konnte nicht dafür sorgen, dass sie mich mögen, aber ich konnte versuchen, bei der Heilung behilflich zu sein. Und das beste Heilmittel war meiner Meinung nach Erfolg, denn davon hatten sie nicht viel gehabt. Unsere Publikumszahlen stiegen, die Verbindung zur Stadtgesellschaft wurde besser, wir machten Aufnahmen und gingen auf Europa-Tourneen.
Haben sich die damaligen Gegner für die anfängliche Ablehnung entschuldigt?
Alsop: Ja, auf ihre eigene Weise, viele wurden für mich zu guten Freunden. Und während meiner Amtszeit – die längste in der Geschichte des Orchesters – wechselte die Besetzung. 40 Prozent wurden von mir engagiert. Es gibt dort jetzt also einen anderen Vibe.
Bei einem Ihrer Konzerte in Baltimore haben Sie einen örtlichen Rapper für das Finale von Beethovens Neunter als Ersatz für den Schlusschor geholt. Wie wurde diese Idee aufgenommen?
Alsop: Das war ein Teil eines größeren, weltweiten Projekts. In den USA hat die ehemalige „poet laureate“ Tracy K. Smith einen Text verfasst und für Baltimore habe ich den Rapper Wordsmith gefragt, der Residenzkünstler des Orchesters war. Wir wollten Schillers Text nicht neu erfinden, sondern ein Update, mit den gleichen Themen: Freude, Toleranz, Einheit. Diese Themen erreichen nicht alle gleichermaßen, wenn sie auf Deutsch besungen werden. Das Publikum – es war zwar divers, aber immer noch unser Hauptpublikum - war total begeistert. Der museale Ansatz der Klassik kann Leute manchmal wirklich abschrecken. Die Musik blieb unberührt, das würde ich nie tun, die ist für mich sakrosankt. Aber ein Text, der vor zwei, drei Jahrhunderten geschrieben wurde, muss neu gedacht werden, damit er sich für die Gegenwart relevant anfühlt.
Das hört sich hoffentlich nicht allzu blöd an, aber: Macht Proben eigentlich Spaß? Der kommt doch erst, wenn man vor Publikum spielt? Proben ist nun mal nur proben, nicht aufführen. Ein bisschen so, als würde man ein Essen kochen, aber dann nicht essen.
Alsop: In beidem liegt ein Zauber. Proben, das ist die harte Arbeit, das Schnippeln, die sind die Entscheidungen, welche Zutaten man verwendet. Macht man das gut, hat man das Potenzial für ein magisches Resultat. Wenn nicht, wird es sehr schwierig. Für das Publikum sind Proben viel interessanter als das Konzert selbst: wie die Wurst zubereitet wird, was man dafür braucht.
Genießen Sie die Macht, die Sie als Dirigentin besitzen? Kann man nach dieser Droge, alles bestimmen zu können, süchtig werden?
Alsop: Gottseidank kümmert sich meine Familie um rein gar nichts von dem, was ich sage, wenn ich nach Hause komme… Ich sehe diesen egomanischen Ansatz nicht. Sicher, es ist eine große Verantwortung, weil ich die Stimme des Komponisten sein muss. Und die Musiker verstehen, dass sie die Musik vital und überzeugend zum Leben erwecken müssen. Wir haben also das gleiche Ziel. Es ist für mich keine Macht-Gleichung, sondern eine Gemeinschaftsarbeit. Kann schon sein, dass es Tage gibt, an denen es sich gut anfühlt, wenn auf mich gehört wird. Doch das zählt für mich nicht allzu sehr.
Was ist schlimmer: Auf eine Bühne zu müssen oder sie verlassen zu müssen?
Alsop: Beides ist gut. Es gibt diese Aufregung beim Auftritt, man tritt ins Licht. Obwohl man eigentlich ja ins Dunkle geht, weil völlig unklar ist, was genau passieren wird. Wichtig ist immer, dass man die Menschen verlassen soll, wenn sie gern noch mehr hätten. Man sollte es nicht übertreiben. Dirigenten haben so etwas wie ein Verfallsdatum, das sollte man beachten und den nächsten Schritt machen, sobald man sein Mögliches getan hat und bevor man sich wiederholt. Es gibt also bei beidem, dem Auftreten wie dem Abgang, Aufregendes und Trauriges.
Können Sie sich Ihre Fehler schnell vergeben und vergessen?
Alsop: Nun ja, das ist jetzt Ihre Vermutung, dass ich Fehler begehe (lacht). Klar, jeder macht Fehler. Ich bin in der glücklichen Situation, dass ich nicht oft Dirigierfehler mache. Dafür passieren mir ständig andere. Man muss sich die Freiheit geben, Fehler zu begehen und aus ihnen zu lernen. Man sollte sie nicht unter den Teppich kehren, wenn gerade niemand zusieht.
Wie empfinden Sie das Lesen von Partituren, diesen Moment, wenn aus den Noten aus dem Papier ein Klang im Kopf entsteht?
Alsop: Das ist die größte Freude von allen. Man wird morgens wach und es ist, als wäre Weihnachten: Oh, was schlage ich heute auf?! Ein Zehn-Stunden-Flug kann in Windeseile vergehen, weil die Partitur lebendig wird und ich mir die Farben vorstellen kann. Man ist nie einsam, man hat immer diese unglaubliche Gesellschaft.
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Worin besteht der Unterschied zwischen einem guten und einem sehr guten Dirigenten?
Alsop: Ein sehr guter ist immer durch den Komponisten und die Musik selbst motiviert. Er oder sie kann ein Umfeld für die Musiker erzeugen, damit sie bestmöglich sein können. Ein guter Dirigent bekommt eine anständige, solide Aufführung hin. Der Unterschied ist dieser X-Faktor – ob etwas transzendental wird. Wenn ein Mensch aus dem Publikum sagt: Ich bin so froh, dass ich in dieses Konzert gegangen bin, es hat mein Leben verändert. Oder mein Denken. Oder mein Herz.
Je länger die Dirigier-Karriere, desto besser der Charakter?
Alsop: Wenn man mit einem anständigen Charakter beginnt, dann stimmt das.