Hamburg. Ein Gespräch mit der norwegischen Sopranistin über große Stimmen, Karriere-Entscheidungen und den Geruch hinter Bühnenvorhängen.

Hast Du gestern die ,Ariadne‘ in der Met gesehen? Falls Du in Brooklyn warst, hast Du es wahrscheinlich bis dort gehört.“ Mit diesem Dialog begann ein Jubelschrei des „New York Times“-Kritikers über den Auftritt von Lise Davidsen – die Metropolitan Opera ist gut acht Meilen Luftlinie von Brooklyn entfernt.

Die norwegische Sopranistin räumt gerade weltweit ab, in diesem Sommer singt sie im neuen Bayreuther „Ring“ die Sieglinde, im Mai Strauss in der Elbphilharmonie. Ein Gespräch über große Stimmen, Buhrufe und Karriere-Entscheidungen.

Hamburger Abendblatt: Ist Singen für Sie Arbeit oder Vergnügen?

Lise Davidsen: Beides. Und müsste ich wählen, dann eindeutig Vergnügen.

Wie war es, diese Art Stimme in sich zu entdecken? War es eine Art Schockmoment?

Davidsen: Das hat sich entwickelt. Den Schlüsselmoment für das Fach, in dem ich jetzt singe, hatte ich, als meine Lehrerin in Kopenhagen mit „Dich, teure Halle“ aus Wagners „Tannhäuser“ und Strauss-Arien vorspielte und mir sagte: Dahin geht Dein Weg. Besonders aufgeregt war ich nicht, weil ich diese Musik nicht so gut kannte. Aber ich kann singen, ich wollte weiterkommen, es ging mir immer eher um das entsprechende Repertoire als um meine Stimme an sich.

Die ist nicht nur wirklich groß, sie war es schon von Anfang an.

Davidsen: Da bin ich mir nicht so sicher. Begonnen habe ich als Mezzosopran, viel Bach, viel Händel, so etwas. Verglichen mit anderen, erinnere ich mich nicht daran, dass sie groß war, auch wenn ich das während des Studiums immer wieder mal gehört habe. So denke ich aber eigentlich nicht darüber.

Was ist das Erste, was Sie in einer neuen Stadt tun, wenn Sie nicht probieren oder auftreten müssen?

Davidsen: Entscheidend ist immer, einen Fitness-Club und einen Supermarkt zu finden.

Können Sie sich noch daran erinnern, wie es war, nach einem Auftritt Buhrufe erleben zu müssen? Und wie sehr schmerzt das?

Davidsen: Dazu fällt mir die „Tannhäuser“-Premiere 2019 in Bayreuth ein. Am Ende lag ich in Tannhäusers Schoß, den Stephen Gould sang, dann ging das Licht aus, und das erste, was ich danach hörte, waren diese Buher. Stephen fasste mich am Arm und sagte mir: Willkommen in Bayreuth. Gebuht wird gern gegen Inszenierungen. Keine Ahnung, warum die Leute das machen. Sie könnten doch auch ganz anders reagieren – gehen, einfach nicht klatschen, gar nichts tun. Buhen ist schon eine ziemlich starke Ansage, nachdem Menschen monatelang, Tag und Nacht für eine Produktion gearbeitet haben – und dann gibt es am Ende nur Buhs. Ich wäre einfach nach der ersten Hälfte gegangen, wenn ich etwas so schlimm finde. Buhen ist extrem unnötig, aber direkt auf mich bezogen habe ich es noch nicht erlebt. Und ich hoffe auch sehr, dass es dabei bleibt, weil es mir das Herz brechen würde.

Wäre es nicht schöner, wenn Ihr Karriereweg nicht ganz so steil gewesen wäre? Das ging alles so schnell. Eben erst waren Sie noch Berufsanfängerin und gefühlt drei Tage später sangen Sie schon an der Met.

Davidsen: Ganz so war es nicht, das war 2019. Aber ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Die Jahre nach 2016 und 2017 fühlten sich wirklich überwältigend an. Ich hatte nicht immer Boden unter den Füßen, weil ich immer schon Angst vor dem nächsten Job hatte. Die Aufmerksamkeit war zu groß. Anfangs hatte ich gedacht, dass ich auch ohne Wettbewerbe an die großen Häuser kommen könnte, doch die haben schon sehr dafür gesorgt, dass ich dort viel schneller singen konnte. Und so konnte ich mir die Rollen aussuchen, die meine Entwicklung im richtigen Tempo halten. Jetzt kann ich auch Nein sagen zu einer Rolle, die ich in diesem Moment nicht richtig finde. Und dafür bin ich sehr dankbar.

Weil Sie die Wettbewerbe erwähnten: In einem Artikel über Sie hieß es, sie seien ein Trophäen-Staubsauger gewesen.

Davidsen: (lacht) Stimmt, der Sommer damals war intensiv.

Haben Sie für Ihre Preise einen speziellen Ehrenplatz?

Davidsen: Momentan pendle ich zwischen zwei Adressen, aber früher waren sie immer unter meinem Flügel.

Wie langweilig sind all diese Vergleiche mit der berühmten norwegischen Sopranistin Kirsten Flagstad?

Davidsen: Nun ja, es ist ein Kompliment, so sehe ich das. Vielen Dank also. Und ich hoffe, dass ich Lise Davidsen bin, das ist alles, was ich sein kann.

Mussten Sie sich dazu durchringen, mit dem Pianisten Leif Ove Andsnes dieses Album mit Grieg-Liedern einzuspielen? Grieg ist aus Bergen, Andsnes ist aus Bergen, Sie haben in Bergen studiert... Alles etwas viel Nationalklischee.

Davidsen: Als ich Leif Ove traf, sagte ich ihm, ich will diese Lieder wirklich gern aufnehmen, ich war lange genug von Bergen und Grieg entfernt gewesen. Wollen wir oder nicht? Du musst nicht gleich antworten. Wir waren beide etwas nervös, weil es entweder auf ein Ja oder ein eindeutiges Nein geben würde. Zu diesem Projekt zwingen konnten wir uns nicht. Und dann funktionierte es!

Wie schwer fällt es Ihnen, etwas abzusagen, das womöglich noch zwei oder drei Jahre entfernt ist?

Davidsen: Theoretisch ist das vielleicht kompliziert, praktisch aber nicht: Ich werde nie etwas zusagen, was ich nicht leisten kann; wenn es um eine Rolle geht, muss ich mir immer treu bleiben. Sehe ich ein Jahr davor, dass es nichts wird, muss ich wieder absagen.

Wie ist es mit dem Druck, den man sich selbst macht? Und mit Selbstzweifeln? Wie schnell kommen Sie über eine mittelmäßige Aufführung weg, wie lang zehren Sie von einem tollen Abend?

Davidsen: Einen schlechten Abend zu verdauen, dauert länger. Ein toller ist schön, und dann muss man sich schon wieder auf die nächste Aufgabe fokussieren. Im Laufe der Jahre ist meine Selbstkritik besser geworden. Das Private kann man nicht komplett vom Beruf trennen. Hat das Einfluss auf einen Auftritt, hat es das eben. Dafür kann ich mich nicht auf ewig bestrafen. Wir wollen immer perfekt sein, aber so einfach ist das nun mal nicht.

Wie schaffen es Dirigenten, Ihnen so richtig auf die Nerven zu gehen?

Davidsen: Wenn sie unhöflich sind, ob nun nur zu mir oder auch zu Kollegen, und so tun, als ob sie der König der Könige wären. Ja, sie haben über so viele Dinge die Kontrolle, aber wenn sie das offen ausspielen, nervt es und ich verliere das Interesse an der Zusammenarbeit.

Stichwort Bayreuth: Vor Ihrem Vorsingen waren Sie noch nie dort gewesen. Wie lief das ab? Einfach mal hinfahren?

Davidsen: Nein, ich wollte da durchaus hin, war aber einfach noch nicht als Mitglied des Publikums dort gewesen. Über die Einladung zum Vorsingen war ich sehr froh. Das war allerdings im März und das Festspielhaus hat keine Heizung. Das wusste ich aber nicht und kam nur in einem Kleid. Ein Bühnenmeister sagt mir, ich solle lieber die Jacke anbehalten, weil es dort eiskalt sei. Für das Vorsingen wollte ich aber nicht, dann riefen auch die Leute von den Festspielen: Jacke anbehalten! Und ich glaube, ich habe das Elisabeths Gebet aus „Tannhäuser“ noch nie so zittrig gesungen, weil es so was von kalt war.

Sollten Sie als Norwegerin nicht mit Kälte klarkommen können?

Davidsen: Das sagen die Leute immer, aber es ist ja nicht so, dass wir ständig in Bikinis herumlaufen würden. Wir ziehen uns entsprechend an und haben Heizungen.

Was, würden Sie sagen, ist das Schöne in Ihrer Stimme? Sie ist kein Instrument, das Sie zum Üben mal eben aus dem Koffer nehmen.

Davidsen: Ganz bestimmt nicht. Wenn ich an einer Rolle arbeite, arbeite ich an Klangfarben. Mir gefällt, dass ich diese Farben habe und auswählen kann. Dafür habe ich hart gearbeitet. Mir gefällt, dass ich mit meiner Stimme auf das Repertoire, das ich singe, hinarbeiten kann. Diese Flexibilität mag ich wohl am meisten an meiner Stimme.

Sie sollen einmal gesagt haben, dass Ihre Karriere zu 80 Prozent aus Arbeit besteht und zu 20 Prozent aus Talent. Ziemlich ehrlich, aber auch ziemlich überraschend. Man kann sicher Sängerinnen finden, die von 90 Prozent Talent und zehn Prozent Arbeit reden würden.

Davidsen: Stimmt schon, aber dieses Zitat untergräbt nicht die Tatsache, dass ich mich glücklich schätzen kann. Aber für die Entwicklung meiner Stimme habe ich endlos viele Stunden gearbeitet, in allen Urlauben, das ganze Jahr, um sie da zu halten, wo sie ist, und um besser zu werden.

Ist es nicht unfair, dass Sie ständig üben und sich tagtäglich im Training halten müssen? Ein toller Hirnchirurg hat irgendwann Feierabend.

Davidsen: Mag sein, aber er bekommt dann auch keinen Applaus. Wir schon… Nein, im Ernst: Mir wurde die Möglichkeit gegeben, vom Singen zu leben und auf einem sehr hohen Niveau zu arbeiten. Wenn das bedeutet, dass ich auch an Wochenenden zu arbeiten habe, dann ist das so.

Gibt es so etwas wie einen Wagner-Sängerinnen-Club, in dem Sie sich untereinander austauschen, welches Opernhaus besser ist, wie man mit den enorm anstrengenden Partien klarkommt?

Davidsen: Nein. Ich spreche nicht viel mit anderen darüber, was ich mache.

Wenn Sie zurück in Ihrem Heimatstädtchen Stokke sind – was ist das Erste, das Sie fürs Wohlbefinden brauchen: wandern, angeln, auf den norwegischen Nebel starren?

Davidsen: Ich muss meine Eltern und meine Neffen umarmen.

Ein 25-köpfiger Fanclub ist einmal aus Stokke nach New York gereist, um Sie an der Met singen zu hören?

Davidsen: Ja, stimmt. Und ich habe sie danach in ihrem Hotel getroffen. Eine sind wirklich an Oper interessiert, andere wollten gern nach New York, um meinen Auftritt zu erleben. Es gab aber keine Fahnen oder Fan-Plakate. Diese Unterstützung fand ich wirklich rührend.

Hatten Ihre Eltern jemals die grundlegende, riesige Angst, dass Ihre Berufswahl in einer Katastrophe enden würde?

Davidsen: Niemand von uns hatte wirklich geglaubt, dass ich diesen Berufsweg einschlagen würde. Singen war anfangs ein Hobby, dann wurde es mein Beruf. Und sie dachten wohl: Wenn sie scheitert, macht sie eben etwas anderes. Sie wissen, dass ich stark und unabhängig bin. Während meines Studiums gab es einen Zeitpunkt, an dem meine Mutter meinte, ich sollte vielleicht aufhören, der Druck sei zu groß. Aber ich machte weiter und daran erkannte sie, wie viel es mir bedeutet. Niemals haben sie gesagt: Du kannst das nicht, Du solltest das nicht tun.

Müssen Sie sich bei Ihren Reisen von einer Produktion zur anderen noch mal kneifen, um tatsächlich zu glauben, dass Sie jetzt in New York sind, in Wien oder London?

Davidsen: Die Städte sind eine Sache, die Opernhäuser selbst sind eine andere. Als ich nach der Corona-Zwangspause wieder an der Met war, war es wirklich speziell: Ja! Die Met! Tatsächlich auf der Bühne! In Bayreuth war es im letzten Jahr genauso. Das ist mein Leben. Ich reise, ich wohne in AirBnB-Wohnungen – aber manche Dinge sind schon surreal.

Was ist schlimmer: Auf die Bühne der Met zu müssen, um vor rund 3000 Menschen zu singen – oder sie wieder verlassen zu müssen, zurück in die normale Existenz?

Davidsen: Das sind zwei Enden des gleichen Hochgefühls. Danach geht man wieder nach Hause und sagt sich: Das war ein guter Abend, alles lief gut, wie schön, dass ich dabei sein durfte.

Vor einiger Zeit waren Sie für einen Liederabend hier an der Staatsoper. Gibt es Pläne fürs Wiederkommen oder ist Hamburg Ihnen schon zu klein?

Davidsen: Nein, ich liebe Hamburg!..

.… Das sagen sie alle, kommen dann aber trotzdem nicht…

Davidsen: … Es gibt wohl tatsächlich Überlegungen, glaube ich, aber die sind noch nicht spruchreif.

Edvard Munch, Karl Ove Knausgard oder Ski-Langlauf – worauf könnten Sie als Norwegerin verzichten, wenn es unbedingt sein müsste?

Davidsen: Dann muss ich mich wohl für Knausgard entscheiden, und das tut mir in der Seele weh, denn ich mag seine Bücher sehr. Munch ist wirklich ikonisch. Und Langlauf liebe ich ungemein. Knausgard also – und ich hoffe, das hört er nie.

Ein O-Ton Ihres Grieg-Partners Adsnes: „Man kann Musik nicht mit Bedeutung, Gefühlen und Charakter füllen, wenn man kein Leben lebt.“

Davidsen: Da stimme ich ihm zu.

Wie fühlen sich diese letzten Sekunden hinter einem Bühnenvorhang an, wie riecht es dort? Ist es wie im Tigerkäfig oder das Allerschönste überhaupt?

Davidsen: Ganz bestimmt nicht. Es riecht nach Staub und nach verschwitzten Bühnentechnikern, die alles startbereit haben wollen. Das alles ist so was von unglamourös, weil alle herumrennen. Meine Arbeit habe ich gemacht, ich kann nicht noch beim letzten Lichtkabel mithelfen, ich kann einfach nur auf meiner Position stehen. Das ist schön, weil es diese Spannung hat.

Konzert: 20. Mai. Mit dem Boston Symphony Orchestra und Andris Nelsons (Dirigent): Strauss „Vier letzte Lieder“ / „Sinfonia domestica“. Elbphilharmonie, Gr. Saal. Aufnahmen: Mit Leif Ove Andsnes (Klavier): „Edvard Grieg“ (Decca, CD ca. 16 Euro)