Hamburg. Stanišić gewann viele Literaturpreise. Er ringt mit seinen Stoffen, schreibt derzeit über Hamburg und geht auch zu Werder ins Stadion.

In Hamburg pulsiert das literarische Leben: Hier leben Bestsellerautorinnen und -autoren, die unvergessliche Bücher geschrieben haben, preisgekrönt sind und mit wachem Blick auf die Welt schauen. Das Abendblatt stellt in einer Serie einige Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Freien und Dichterstadt vor.

Bei einem der letzten Male, die das Abendblatt über Saša Stanišić berichtete, war es so, dass der Schriftsteller freundlich zum Fotoshooting kam. Ein Extratermin ohne vorheriges Interview. Was nicht außergewöhnlich klingt, wäre es in der Logik des allwährenden Scheuer-Poet-Prinzips vielleicht doch: Dichter, die ihre Schreibklause freiwillig verlassen, und das auch noch wegen so was im Zweifel Nervtötendem wie Fürs-Foto-Posieren, gibt’s so was überhaupt?! Nur dass Stanišić halt kein scheuer Dichter ist. Er ist das Gegenteil davon.

Es gab vor ein paar Jahren zum Beispiel die beste Geschichte zu bestaunen, die es von einem deutschen Schriftsteller überhaupt zu hören gibt. Wirklich die allerbeste. Es ist die Geschichte, die davon handelt, dass der bekannte Schriftsteller Saša Stanišić unter falschem Namen die Hamburger Abiprüfung im Fach Deutsch mitschreibt, Thema: Saša Stanišićs Roman „Vor dem Fest“. Immerhin 13 Punkte gab es am Ende für Stanišićs Arbeit, die unter anderem darin bestand, ein neues Kapitel zu nämlichem Roman zu schreiben.

Saša Stanišić: Überwindung jeglicher Autor-Leser-Distanz

Mehr Überwindung jeglicher Autor-Leser-Distanz geht nicht. Sich, wenn auch inkognito, unter zwangsweise zur Lektüre des eigenen Buchs verpflichtete Heranwachsende zu begeben, Donnerwetter. Und es war ja auch nicht so, dass Saša Stanišić sich sonst rar gemacht hätte. Veranstaltungen mit Schülerinnen und Schülern, der Schriftsteller zum Anfassen, hatte er einige. Und man sieht ihn eh oft, gerade in Hamburg, auf Kulturveranstaltungen oder im Café: Stanišić ist kein Stubenhocker. Das unterscheidet ihn nicht von allen, aber von einigen Berufskolleginnen und -kollegen.

Ich habe Saša Stanišić, gemessen an Begegnungen mit anderen Schriftstellern, wirklich oft getroffen, nicht selten zufällig. Einmal sogar in der Ostkurve des Weserstadions, die für den bekennenden HSV-Fan Stanišić keinesfalls ein Tabubereich ist. Für diesen Text aber haben wir auf ein persönliches Treffen verzichtet. Was sicher auch gut in diese Zeit der Keime, des Abstands und der Distanz passt, hatte auch andere Gründe: Vielleicht ein bisschen Jahresendstress, anderweitige Verpflichtungen. Wie jeder gute Schriftsteller, er ist ja sogar einer der sehr guten, ringt Saša Stanišić mit seinen Stoffen. Ursprünglich hatten wir auch über die Arbeit an seinem Projekt sprechen wollen. Ein Roman, der in Hamburg angesiedelt sein soll; aber die Recherchen, die Vorarbeiten stocken gerade etwas.

Saša Stanišić beantwortet Fragen per Mail

Stanišić hat dann einige Fragen per Mail beantwortet, was dann in vielerlei Hinsicht genauso gut funktionierte wie im echten Leben. Wahrscheinlich war der Formulierprofi Stanišić, der im Netz die Kunst des pointierten Alltags- und Debattenkurzbeitrags perfekt beherrscht, sogar noch smarter als von Angesicht zu Angesicht. Stanišić ist stets deshalb so unterhaltsam und sympathisch, weil er das Mittel der Selbstironie kennt. Es gab, das nebenbei, noch nie ein besseres Werkzeug, um souverän im Rampenlicht zu bestehen und Selbstdarstellung wie etwas aussehen zu lassen, das nicht den Verdacht der ausschließ­lichen Eitelkeit bestätigt.

Wobei damit nicht gesagt ist, dass Stanišić nicht auch eitel wäre. Alles andere wäre komisch. Er ist unzweifelhaft der Mann im Literaturbetrieb mit den besten Autorenfotos. Das könnte daran liegen, dass viele der Fotos, die von ihm kursieren, von seiner Lebenspartnerin stammen. Es gibt ein Foto von den beiden, die mit ihrem Sohn seit Längerem in Altona leben, das sie in Stanišićs prominentestem Moment zeigt, dem nämlich, als im Frankfurter Römer bekannt gegeben wurde, dass er der Gewinner des Deutschen Buchpreises 2019 ist.

Stanišićs Geburtsstadt wurde von serbischen Nationalisten zerstört

Es muss damals eine diffuse Gefühlsexplosion gewesen sein, die Stanišić ereilte; die pure Freude, die einem aus dem Bild der Verkündung anstrahlt, gesellte sich neben die Wut, die den 1978 im damaligen Jugoslawien geborenen Schriftsteller im Oktober 2019 seit Tagen beschäftigte. Peter Handke, der zu Zeiten des Balkankrieges nicht nur die westliche Berichterstattung harsch kritisierte, sondern auch den serbischen Kriegstreiber Slobodan Milosevic hofierte, war der Literaturnobelpreis zugesprochen worden. Stanišić kritisierte diese Entscheidung bei seiner Dankesrede harsch; sein gerechter, verständlicher Zorn sorgte dabei für eine nie dagewesene Politisierung der renommierten Auszeichnung.

Stanišićs Geburtsstadt Višegrad, aus der der Teenager mit seinen Eltern 1992 nach Deutschland floh, wurde von serbischen Nationalisten zerstört. Sprechen will Saša Stanišić über den Aufruhr von vor zwei Jahren nicht mehr. Es ist alles gesagt. Auch in dem Buch, für das er ausgezeichnet wurde und das vor dem Preis schon ein Bestseller war. „Herkunft“, dieser so schlicht wie programmatisch betitelte Roman über sein Leben, erzählt davon, was es bedeutet, eine Heimat zu verlieren und eine neue zu finden.

Auf mal nüchterne, mal sentimentale Weise, komisch, erhellend, packend, auch analytisch. Stanišić, der von seinem Heidelberger Deutschlehrer gefördert wurde und auch von den Behörden an einer entscheidenden Weggabelung Hilfe erhielt, die es ihm ermöglichte, nach dem Schulabschluss in Deutschland zu studieren, hatte das Glück und die Möglichkeiten, die seinen Eltern nicht offenstanden. Sie durften nach Kriegsende nicht in Deutschland bleiben und zogen nach Amerika weiter.

Migrantenschicksale sind so unterschiedlich wie die Menschen

Heimat ist zufällig – das ist die Kernaussage von „Herkunft“. Migrantenschicksale sind so unterschiedlich wie die Menschen, zu denen sie gehören, und doch gleichen sie sich. Verluste, Gewinne, kulturelle Gemische, Willkommensgesten und Fremdenhass: 1992 und 2022 sind die Weltgegenden, aus denen Menschen nach Deutschland kommen, nicht dieselben, die Lebensumstände schon.

Stanišić, der vor seiner Übersiedelung nach Hamburg auch in Leipzig und Berlin lebte, hat das bislang so unwahrscheinliche Kunststück geschafft, als Einwanderer, für den Deutsch eine Fremdsprache war, neben vielen, vielen anderen Auszeichnungen sowohl den Deutschen Buchpreis als auch den der Leipziger Buchmesse (2014 für „Vor dem Fest“) zu erhalten. Er gehört jetzt zur Ersten Liga der deutschsprachigen Literatur und wird längst auch im Ausland gefeiert.

Migrantenschicksale sind so unterschiedlich wie die Menschen

Hat sich für ihn eigentlich etwas geändert seit dem Buchpreis? „Eigentlich nicht, ich bin mehr im Land herumgekommen, aufgrund der vielen Lesungen“, sagt Stanišić, „und wenn ich jetzt eine Wohnung in Hamburg suchen würde, könnte ich hoffen, dass mein Name dem Vermieter bekannt vorkommt.“

Er suche übrigens gerade eine Datscha in Hamburg („am liebsten Altona“), fügt er hinzu, „augenzwinkernd“, wie man das wohl so nennt. So ist er nicht selten, sowohl im Gespräch von Angesicht zu Angesicht als auch im Netz. Zwinkern, das ist fast Zwitschern. Twitter ist das bevorzugte Mitteilungsmedium von Stanišić („Ich lösche das eh bald alles“), er ist der Twitterkönig, mindestens unter den Schriftstellern.

Saša Stanišić sucht eine Datsche in Hamburg

Man unterschätze aber nie den Ernst, der unter dem flüchtig Dahingeworfenen lauert oder der digitalen Pointe. Stanišić gehört zu der Sorte Mensch, die ihr Hellwachsein in Bezug auf den Zeitgeist oder die großen Themen selbstverständlich ihrer eigenen Geschichte verdanken. Obwohl er, was die angeht, seinen aus Sicht des geborenen Deutschen angenommenen Spezialhintergrund bei der Frage, ob Bi-Kulturalität eher Fluch oder Segen sei, gleich einkassiert.

Er sagt: „Ich denke, wir alle sind mehrfach kulturelle Menschen – meine Auffassung dessen, was uns als Individuen ausmacht, ist viel vielschichtiger als die bloße Reduktion auf Herkunft. Und über die denke ich im Alltag nicht wirklich nach, da sie ‚unsichtbar‘ ist. Hätte ich eine dunklere Hautfarbe oder starken Akzent, würde man mich mehr daran erinnern, nicht ‚von hier‘ zu sein. Oder mir selbst würde es mehr auffallen aufgrund dessen, wie ich behandelt würde, welche Privilegien mir nicht selbstverständlich in den Schoß fallen, so wie mir das früher aufgefallen war, als meine Familie und ich noch als Flüchtlinge frisch in Deutschland waren und ständig in unterschiedlichen Kontexten auf dieses Flüchtlingssein begrenzt“.

Als Schriftsteller hat er sich zuletzt mit seiner Kindheit und Jugend beschäftigt. Den Blick zurück nach Jugoslawien, nach Heidelberg richtete ein Mann, der die 40 schon überschritten hat. Für ihn, erzählt Stanišić, stelle sich beim Schreiben nicht die Frage des zeitlichen Abstands zum Subjekt, „sondern der Nähe zu einer Idee“. Wisse er, was er erzählen möchte, habe er die Frage, ob dieses Was erzählenswert sei, mit „Ja“ beantwortet, gehe es „auch schon um das Wie, nämlich Sprache und Struktur“. „Wenn Texte einem wirklich, wirklich wichtig sind, will man sie auf allen Lese-Ebenen besonders gestalten; ja, vielleicht braucht es für solche Texte einen Abstand, aber auch der ist wohl oft nur ein Abstand, um so richtig Zeit zu haben, nachzudenken, wie etwas am allerbesten zu erzählen ist“, sagt Stanišić.

Zuletzt veröffentlichte Saša Stanišić zwei Kinderbücher

Tatsächlich legt dieser Autor, der seit 2006 drei Romane und einen Erzählungsband veröffentlicht hat, Zeit zwischen seine Bücher. Zuletzt erschienen zwei Kinderbücher, aber die zählen nach der reinen Große-Literatur-Lehre nicht. Stanišić hat, gerade mit „Herkunft“, die Maßstäbe ziemlich hoch gesetzt. Nun also der neue, der „Hamburg“-Stoff. „Spannende Stadt, dieses unseres Hamburg“, sagt er dazu erst mal. Er hoffe, dies anhand eines Viertels erzählen zu können und grabe jedenfalls in der Zeit der Stadt und finde viel Erzählenswertes. Wahrscheinlich spricht aus seiner Antwort („Ich überlege, ob ich doch noch Jura studieren soll“) auf die Frage, an welchem Punkt in seiner Karriere er sich derzeit sehe, der haareraufende Unernst dessen, der das noch leere Blatt vor sich liegen sieht.

Themenwechsel. Wie steht es eigentlich um den Typus des sendebewussten Literaturintellektuellen à la Grass, warum gibt es den nicht mehr? Stanišić hat dazu eine klare Meinung: Debatten seien häufig Lagerkämpfe, und Schriftsteller, so wie er deren Arbeit begreife, gehörten per se in kein Lager. „Als Privatpersonen von mir aus schon, aber wenn die Privatperson dann auch noch Texte verfasst, die zwar gekleidet sind in ein Overall aus Literatur, sich in den Figuren oder der Erzählerrede aber den politischen Standpunkten des Autors andienen, sie ohne Gegengewicht im Text spiegeln, sich schlimmstenfalls irgendeiner obskuren Ideologie affirmativ unterwerfen und dann noch mies recherchiert sind – ja, das ist dann weniger gut, notwendig oder nett“, sagt Saša Stanišić.

Er selbst definiere seine öffentliche Rolle so, dass er, wenn ihn etwas wirklich sehr störe, dem oder der, von dem oder der ich am ehesten die Lösung dieser Störung erwarten kann, einen Brief schreibe – „oder ich rufe da an“. „Und das ist vielleicht auch noch das Gute am Bekanntsein: Gelegentlich gibt es eine Antwort und ein Gespräch“, berichtet er.

Literatur ist allgegenwärtig bei Stanišić zu Hause

Er habe, zum Beispiel was „das große willentliche Versagen der EU in Menschenrechtsfragen“ angehe, sich auch schon mal an Kirche und Politik gewandt und neulich mit dem Bundespräsidenten kommuniziert. Das Konkrete finde er gar nicht so wesentlich, es geht ums Grundsätzliche. Und da werde er aktiv „bei Schmierentheater, Missverständnis und Solidaritätsmangel“. Gelegentlich, wie Saša Stanišić weiter ausführt, „aber auch aus Neugier – zuletzt in der Frage, wie städtische Planung in Hamburg so fies mies geraten konnte“.

Was wiederum die Auseinandersetzung über Literatur angeht: Sie ist allgegenwärtig bei Stanišić zu Hause. Seine Lebensgefährtin ist Lektorin bei Rowohlt. Man muss nun aber nicht zwingend annehmen, dass es da entgegen seiner Behauptung, ein Indikator für intensive Literaturgespräche sei durch die Gegend fliegendes Abendessen, stets zu kulinarischen Flugobjekten kommt.

Wenn man wissen will, wer Saša Stanišić ist, dann könnte man tatsächlich als allererstes Mal seine Partnerin fragen. Oder man hört ihm einfach zu und liest seine Texte. Man kann es sich übrigens nicht anders denken, als dass bei Stanišićs viel gelacht wird. Sein Sohn wird Papas Erzählungen auch witzig finden, denn das, was dieser Toperzähler zu berichten hat, ist in seiner eher leisen als lauten Komik für alle Alter geeignet; die folgenden Großbuchstaben stammen von Stanišić selbst: „Neulich habe ich geträumt, ein Hafenkran unten an der Elbe zu sein, es war richtig, richtig blöd, kommst nicht weg, die Schiffe zu laut, und die ganze Zeit saß ein Vogel auf mir und hat mich mit den Krallen gepiekt, und als Kran KANNST DU DICH NICHT MAL KRATZEN, WENN ES JUCKT.“

St. Pauli-Fan? HSV-Fan Saša Stanišić würde Sohn enterben

Apropos Filius. Würde es ihn eigentlich glücklicher machen, wenn sein Sohn ein Fan vom HSV wird oder einer von Roter Stern Belgrad? „Fans von Roter Stern sind richtig Faschos heutzutage, das also bitte nicht“, antwortet Stanišić, „viele wissen ja, dass ich HSV-Fan bin, aber was viele nicht wissen, ist, dass ich St. Pauli auch gern habe und Werder ein paarmal Glück brachte, als ich im Stadion war“. Heißt: Er ist kein Hardliner.

Er würde seinen Sohn natürlich trotzdem enterben, wenn er St.-Pauli- oder Werder-Fan werde, schiebt Stanišić dann noch nach.

Saša Stanišić, der Mann, der nicht nur literarisch Grenzen überwunden hat, kennt die roten Linien der Fan-Folklore, und das ist nun wirklich vernünftig.