Hamburg. Dissonante Melodien mit vielen Fehlpässen: Saša Stanišić beschreibt für das Abendblatt das 1:3 des HSV gegen den VfL Bochum.
Mein erstes HSV-Spiel fand am 3. April 1993 statt. Karlsruhe, auswärts. Fünfzehn Jahre alt war ich und seit einem halben erst in Deutschland. Ein Flüchtling mit Lücken in seinem Deutsch von der Größe der Lücken in der Hamburger Abwehr vor dem Elfmeter zum Bochumer Führungstor heute.
Ein Schulfreund hatte mich mitgenommen. Sein Vater, ein Anhänger des HSV, mein Ticket gezahlt. Es gab Wurst in der Pause und neue Vokabeln für mich, wenn Vater den Schiri beschimpfte. HSV verlor. Im Nachhinein, auch heute wieder, denke ich: Das passt. Es passt, dass meine leidende Liebe zu diesem Verein mit einer Niederlage begann. So wie es passt, dass mein erster Text über den HSV ein Text über eine Niederlage sein wird.
Saša Stanišić und sein HSV-Erlebnis mit Bernardo Romeo
Übrigens war das nicht einfach nur so eine Liebe der Art „mal gucken, wie die am Wochenende gespielt haben“. Sondern eine, die mal dazu geführt hat, dass ich Bernardo Romeo, diesem Stürmer gewordenen Rückenschmerz, nach seiner Bandscheiben-OP in einer Heidelberger Klinik Mandarinen ans Krankenbett gebracht hatte. Seine gesamte argentinische Familie versammelt, da läuft ein langhaariger Typ mit Kapuzenpulli und einer Papiertüte Mandarinen ins Zimmer und sagt: „Romeo? Hier, ein paar Vitamine für dich. Gute Besserung!“
HSV bekommt vom VfL Bochum die Grenzen aufgezeigt
Das Erste, was ich heute – die Spieler wärmen sich auf – von der Tribüne sehe: Terodde hämmert einen ins Netz. Also glaube ich, Terodde wird auch im Spiel einen machen. So geht Aberglaube und so kommt es auch. Es ist der Ausgleich in der 65. Minute, sein neuntes Tor in der laufenden Spielzeit. Und das Spiel danach wird, wie man so schön sagt, offen sein, der Sieg für beide Teams eine greifbare Alternative zum gesenkten Kopf nach Schlusspfiff. Hätte HSV die Möglichkeit genutzt, hätte man das Attribut „glücklich“ an das Ergebnis hängen müssen.
Wintzheimer umtriebig und mit Pressing, wie man es betreiben sollte
Denn wirklich dominieren, druckvoll und gefährlich sein, konnten die Hanseaten nur selten. Vierzig Sekunden lang nach Anpfiff war es der umtriebige Wintzheimer, der Pressing so betrieb, wie man es im Profifußball betreiben sollte: mit witzloser Unnachgiebigkeit. Forscher Ballgewinn am Strafraum war sein Lohn, zwei Flankenversuche, Eckball. Im Volkspark wäre es unter nicht-pandemischen Umständen laut geworden, ein aufpeitschender Applaus. Die Zeiten sind aber andere, heute wieder keine Zuschauer, ein einsamer Kameramann die einzige Bewegung auf Süd, West und Ost, mal abgesehen von Befreiungsschlägen der Hamburger, die auf der Tribüne landen und dem fortwährenden Hall der Rufe am Platz und von der Bank.
„Komm!“
„Drauuuf!“
„Mit Überzeugung!“
Mit Überzeugung hatten auch die Befreiungsschläge zu tun – der spürbaren Überzeugung der Bochumer, nachdem sie sich von ihrer anfänglichen Verunsicherung erholt hatten und mit der sie die Hamburger bald zum Verlegenheitsfußball zwangen. Sie betrieben nun selbst jenes hochstehende Spiel ohne Ball, stellten lauter schwierige Fragen, denen Ulreich und die Hamburger Dreierkette zu oft mit langen Bällen in den Zufall hinaus auswichen, statt spielerische Lösungen als Antwort anzubieten.
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Die Spielerrufe hören sich an wie heiserer Vogelgesang
Die Sonne drang durch die Wolken. Malte helle Schatten auf den Rasen. Die Spielerrufe, kurz und abgehackt, wie heiserer Vogelgesang. Zwischendurch nach einem Foul auch mal jäh gebrüllt: gelb für Soares (17.) nach einem Schmerzensschrei von Leibold. Gründe etwas zu rufen, scheint es, gibt es immer. Außer vor einem Eckball. Da grölen erst alle durcheinander ihre Anweisungen, bevor dann, unmittelbar vor der Flanke, eine immense Minimalstille kommt – schön fast. Dann klatscht es feucht gegen eine Stirn und weiter geht die Symphonie.
„Rauuuuf!“
„Vor!“
„Rauuuus!“
Und so vieles, von dem man nur die Dringlichkeit versteht. Auch, wie dringlich Hamburg am Verhalten bei gegnerischen Standards arbeiten muss: Žulj führt einen Freistoß schnell aus, die Abwehr wacht nicht schnell genug aus der Lethargie eines begangenen Fouls auf, schon ist Robert Tesche frei vor Ulreich, dem nicht viele Alternativen bleiben – den Elfmeter verwandelt Žulj sachlich halbhoch. 0:1 Bochum.
Für wen ist die Halbzeitmusik?
Die lauten Hymnen, wenn niemand mitsingt, völlig übertrieben. Die, die gemeint sind, die Gänsehaut kriegen sollten, Fahnen schwenkend, sind zu Hause. In der Halbzeit „Rhythm Is A Dancer“ aus den Boxen, wieder extrem schrill, man denkt: Für wen? Könnte doch eigentlich auch, wenn eh niemand hier ist, außer denen, die es beruflich sein müssen, auch mal eine Komposition von Johann Joseph Fux gespielt werden, den immens begabten und kaum bekannten Zeitgenossen von Bach.
Die Komposition, die dieses Spiel sein wird, gestaltet sich so weiter: ein auch bei Rückstand nach seinem Dirigentenstab suchender HSV. Dissonante Melodien mit vielen Fehlpässen und wenig Bewegung im Mittelfeld. Die Dreierkette beim Gegenpressing trifft kaum eine Note, das Mittelfeld, mit Jatta rechts und Leibold links, sucht die richtige Melodie und ist im Aufbauspiel nicht dynamisch genug.
Gerade Jatta wirkt sich selbst zu sehr überlassen in einem Vakuum zwischen Abwehr und Mittelfeld. Seine Könnerschaft, an der Seitenlinie marschierend die Gegner zu verspeisen und robuste Flanken zu schlagen, bleibt heute Erinnerung an bessere Tage. Dagegen Bochum mit sehr gutem Tag, pragmatisch, ohne zu glänzen. Musst du ja auch nicht, wenn dem Gegner so wenig gelingt.
Die besten Phasen der Gastgeber folgen immer, nachdem Bochum seine Chancen hatte. Nachdem etwa in der 19. Minute ein irrer Reflex von Sven Ulreich, dann das Glück, den HSV vor einem noch früheren Rückstand bewahrt haben, sind die Rothosen plötzlich da – die zwei Chancen wie zwei Ohrfeigen –, schon rennen sie durch die Gegend, als hätten sie nicht nur einen Plan, wie sie durch die Gegend rennen sollen, sondern als würden sie den Plan auch präzise ausführen.
Fehlpässe haben ihre eigene Schönheit
Nach dem Wiederanpfiff die schönen Wogen des Geschehens: Wie Druck und Gegendruck sich begegnen. Dass Bochum zwar gut rauskommt aus der Kabine, dann aber Jatta – nach einem halben Spiel endlich etwas enthemmt – mit einem kleinen öffnenden Pass aus dem Halbfeld eine Ecke erzwingt und damit indirekt die Chance für Hunt, der wuchtig aus (zu) spitzem Winkel in die Arme von Riemann trifft (49.).
Und dass auch Fehlpässe eine eigene Schönheit entwickeln, wenn die Angriffe immer nervöser werden. Wie bei einer überraschenden Metapher, dass man sich fragt: Was soll das, wie kann man denn aus vier Metern so einen Ball spielen?! Gleichzeitig: Was macht der Gegenspieler daraus? Dialoge, unvorhersehbar unterbrochen durch ein gegnerisches Bein. Die Ästhetik des Fehlpasses ist seine kreative Energie, und die ist am größten, wenn sie zu einer Torchance beim Gegner führt. Zum Elfmeter vor dem Ausgleichstreffer führt ein Foul an Hunt, führt eine Flanke von Jatta auf Hunt, führt ein guter Lauf hinter die Abwehr von Terodde, führt ein eigentlich sehr gut gedachter Pass von Dudziak in genau diesen Lauf – führt also Bewegung und Musik und quasi Fehlpass.
„Weiter! Weiter! Weiter!“
Der feine Ball in die Tiefe
Darf man von der Pressetribüne anfeuern? Kann man da runterrufen: „Auf Männer! Kommt jetzt!“ Und wie sich Terodde einen anderen Ball schnappt nach seinem Treffer, nachdem Riemann den Spielball nicht hergibt: Mit Überzeugung! Und die Hoffnung wieder da. „Mann!“ „Hey!“ „Raus! Raus!“ „Zieh durch!“
Dann ein Vierer-Wechsel: Wood, Kittel, Narey und Gjasula kommen für Jatta, Wintzheimer, Hunt und den verletzten Dudziak. Die Neuen beflügeln das HSV-Spiel, es gelingt den Hamburgern, sich länger in der gegnerischen Hälfte festzusetzen, doch das Tor machen die Bochumer.
Bobby Wood wird vorn geblockt, die Gäste führen den Gegenangriff mit vorbildlicher Zielstrebigkeit aus, und wieder ist es Tesche, der ehemalige Hamburger, der einen feinen Ball in die Tiefe spielt, wo ihn Blum von der rechten Strafraumkante weich über Ulreich ins Netz hebt – 2:1 Bochum (78.).
Nach dem Spiel wird Thioune lange mit seinen Spielern im Mittelkreis sprechen. Vielleicht noch nicht über das 3:1 in der 82. Minute, das fiel, nachdem Hamburg das Visier aufgemacht hatte als eine Mischung aus Slapstick und Akrobatik im Fünfmeterraum. Solche Zirkusnummern brauchen Zuschauer, das waren diesmal die Hamburger Abwehrspieler, die zusahen wie Ganvoula per Kopf den Ball auf Chibsah ablegt, der die Kugel mit einem unkonventionellen Volley an Ulreich vorbeikrakte.
Was würde das Stadion erzählen, wenn es sprechen könnte? Was würde der Volkspark erzählen über den Frühling 2009 als Hamburg viermal binnen neunzehn Tagen auf Werder traf? Ich war selbst beim Pokalspiel vor Ort, Sie wissen schon: Tim Wiese. Was würde der Volkspark über das 4:4 gegen Juve erzählen? Was über den wahrscheinlich von allen längst vergessenen Sieg gegen 1860 München im Februar 2002, das für mich ein besonderer war, weil mein erstes Spiel im Volkspark? Mein Gott, Roy Präger! Und was über die Niederlage heute, zweite Liga, niemand da, Niederlage gegen Bochum.
Ich glaube vielleicht das:
92. Spielminute, falscher Einwurf HSV.
Oder das: Die Greenkeeper bessern den Rasen aus. Einer trägt die Eckfahne mit der HSV-Raute die ganze Zeit unter dem Arm, statt sie abzulegen, bis er die Arbeit beendet hat.
Immer noch: erster Platz.
Nur noch: zwei Punkte Vorsprung.
Weiter geht es.
Der Autor
Saša Stanišić (42) floh 1992 mit seinen Eltern vor dem Bosnienkrieg nach Deutschland. Er lebte zunächst in Heidelberg und studierte dort Deutsch als Fremdsprache und Slawistik. Heute lebt Stanišic in Hamburg-Ottensen und ist ein mehrfach ausgezeichneter Schriftsteller. 2006 schrieb er seinen Debütroman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“. 2014 gewann er den Preis der Leipziger Buchmesse für seinen zweiten Roman „Vor dem Fest“. Für den autobiografisch gefärbten Roman „Herkunft“ wurde er 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.