Hamburg. Matthias Kirschnereit lebt in Hamburg, spielt aber international. Am Wochenende gastiert er in der Elbphilharmonie.
Hin und wieder drückt Matthias Kirschnereit beim Reden einen dissonanten Akkord oder entwickelt eine Abfolge unkonventioneller Harmonien, als würde er seiner eigenen Stimme im Gespräch einen Kontrapunkt hinzufügen. Er scheint es selbst kaum wahrzunehmen. Der Platz am Flügel ist seine natürliche Umgebung. Seit Jahrzehnten.
Kirschnereit, von Beruf Konzertpianist, ist ein Spätblüher. Am 15. Januar ist er 60 geworden. Gesetztes Alter, sollte man meinen. Aber nicht bei ihm, auch wenn die Farbe des Lockenschopfs mit den Jahren von Meliert zu Grau übergegangen ist. Es wird am Geburtstag ganz schön trubelig zugegangen sein in dem Alsterdorfer Haus; seine Kinder sind 11 und 15 Jahre alt.
Hamburger Pianist wird 60: Konzert in der Elbphilharmonie
Auch seine Klavierkarriere sieht nicht aus, als wollte er sich demnächst zur Ruhe setzen. Aus Anlass des runden Geburtstags hat er eine Reihe von Benefizkonzerten zugunsten der Initiative HateAid geplant. Zwei davon sind abgesagt worden, aber der Abend am 23. Januar im Kleinen Saal der Elbphilharmonie mit Werken von Brahms, Rachmaninow, Debussy und Chopin steht.
Die Programmwahl geht über Kirschnereits Kernrepertoire hinaus. Im Zentrum seines Schaffens steht die deutsche Romantik. Er spielt Schumann, Beethoven und Brahms, aber auch Fundstücke von Fanny Hensel oder Julius Röntgen frisch. Ohne Scheu vor dem großen Gefühl, aber auch, ohne je in die Nähe eines klebrigen Pathos zu geraten. Davor bewahren ihn die Natürlichkeit der Phrasierungen, der delikate Umgang mit dem Zeitmaß, die sprechende Artikulation.
Exemplarisch zu bewundern auf der jüngsten seiner mehr als 40 Einspielungen: Mit dem Dirigenten Michael Sanderling und dem Orchester des Hessischen Rundfunks hat er Werke von Hummel, Weber und Mendelssohn aufgenommen.
Hamburger Pianist wurde im Traum von Schumann aufgesucht
„Ich bilde mir ein, den Komponisten immer näher zu kommen“, sagt er über seine Entwicklung. „Meine Bewunderung dafür, wie sie existenzielle Gefühle in Musik gießen, wächst, je vertrauter sie mir werden. Manchmal habe ich regelrecht Mitleid, wenn ich Schubert oder Mendelssohn spiele.“
Sein Hausgott Schumann hat ihn – angekleidet und mumifiziert – im Traum aufgesucht, als er mitten in den Aufnahmen für eine Schumann-CD mit Werken für Klavier und Orchester steckte. „Ich hatte gigantischen Respekt, auch weil mit einem Orchester so viele Unwägbarkeiten dazukommen. Erst hatte ich Angst, als der tote Schumann vor mir stand. Aber er sagte, du spielst meine Musik gut, mach weiter so. – Das hat mich sehr beruhigt!“ Und mit Brahms ist er – ebenfalls im Traum – ganz vertraut durch einen Park gelaufen. „Also, ich warte jetzt auf Mozart“, scherzt er.
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Im Sommer holt Kirschnereit berühmte Musiker in den Norden
Als Pianist ist er langsam gereift. In der Kindheit, als Gleichaltrige viele Stunden täglich übten und von Wettbewerb zu Wettbewerb eilten, lebte Matthias Kirschnereit fern aller Ausbildungsstrukturen mit seiner Familie in Namibia. Mit 14 Jahren ging er ohne die Eltern nach Deutschland an die Musikhochschule Detmold – und wagte es zu Beginn der Oberstufe, die Schule hinzuwerfen und ganz aufs Klavier zu setzen. Gerade noch rechtzeitig für eine Pianistenlaufbahn.
Das Wort „Star“ passt nicht zu diesem Künstler. Doch eine gestandene internationale Karriere hat er gemacht. Als Prophet in der eigenen Stadt steht er zwar nicht auf den Plakaten der großen Hamburger Veranstalter. Dafür zählt er klangvolle Namen wie die Geiger Christian Tetzlaff und Daniel Hope, das Schumann Quartett oder die Klarinettistin Sharon Kam zu seinen Kammermusikpartnern, er ist eng mit der Alten Oper Frankfurt und dem Konzerthaus Berlin verbandelt. Und er hat fein verzweigte Wurzeln im ganzen Land geschlagen.
Auch in Stralsund, Salzgitter oder Coburg kann man die Menschen mit Wahrhaftigkeit, Inspiration und Sensibilität erreichen. Als künstlerischer Leiter des Festivals „Gezeitenkonzerte“ holt er jeden Sommer weltberühmte Musiker nach Ostfriesland. Seit 1997 ist er Professor an der Musikhochschule Rostock und seit einem Jahr Präsident der Hamburger Brahms-Gesellschaft.
Elbphilharmonie: Kirschnereit spielt Debussy und Chopin
Und was hat er noch so vor auf dem Klavier? Da sinniert der Jubilar ein wenig vor sich hin: „Ich spiele jetzt in Hamburg Rachmaninow, Debussy und Chopin, also abseits meines Kanons. Mozart liebe ich wahnsinnig. Und vielleicht komme ich im Alter noch mehr zu Bach?“ Das erste Stück, das ihm zu dem barocken Komponisten einfällt, ist der schlichte, innige Choral „Jesus bleibet meine Freude“, in dem die Melodie in wiegenden Dreierfiguren umspielt wird.
Essenz statt Effekthascherei, vielleicht lässt sich Kirschnereits Credo auf diese Formel bringen.
Konzert zum 60. Geburtstag von und mit Matthias Kirschnereit: So 23.1., 18.00, Elbphilharmonie (Kleiner Saal). Tickets zu 19,- bis 49,- unter T. 35 76 66 66 und www.elbphilharmonie.de. Es gilt die 2G+-Regel