Hamburg. Der Dirigent und das London Symphony Orchestra präsentierten Werke von Mahler, Webern, Rott und Dvorak im Großen Saal.

Was für eine verpasste Gelegenheit! Wer, wenn nicht ein Triple-A-Dirigent wie Sir Simon Rattle, hätte als prominenter Aufmerksamkeits-Motor für diese Rarität aus der Endmoränen-Ära der Wiener Spätestromantik ein Plädoyer halten können? Und wo, wenn nicht während der Jubiläums-Konzertwoche im Großen Saal der Elbphilharmonie, hätte aus diesem Konzert eine Unterrichts-Einheit über Komponisten-Marotten, Vorlieben, Schicksale, Einflüsse und skurrile Musik-Geschichten werden können? Aber: nein.

Für den ersten Abend des Hamburg-Gastspiels mit seinem London Symphony Orchestra hatte Rattle eine erste Programmhälfte zu bieten, die andeutete, was sie hätte ausspielen sollen. Es gab „nur“ den „Blumine“-Satz aus Mahlers Erster – jenes idyllische Zwischenstückchen mit dem blumig verträumten Volkslied-Trompeten-Solo, für das in der frühen „Hamburger“ Fassung noch Platz war und das später von Mahler gestrichen wurde. Und wenig später „nur“ das Scherzo aus der E-Dur-Sinfonie von Hans Rott.

Elbphilharmonie: Simon Rattle mit Mahler, Rott und Webern

Hans Rott? Ein unfassbar begabter Wiener Studienfreund Mahlers, in dessen sinfonischem Geniestreich enorm vieles bereits so klingt wie das musikalische Vokabular, das Mahler später nahezu wortwörtlich in seiner Zweiten, Dritten und Fünften, neutral ausgedrückt: „inspiriert weiterverarbeitete“. Jener Hans Rott, der während einer Zugfahrt abstruse Wahnvorstellungen hatte, in denen ein Revolver, der ihm verhasste Johannes Brahms und eine Menge Sprengstoff vorkamen und der 1884 mit nur 25 Jahren in einem Wiener Irrenhaus starb und zur Fußnote wurde.

Wie großartig wäre es gewesen, eine ganze Mahler- neben der kompletten Rott-Sinfonie zu hören, um staunend vergleichen zu können und festzustellen, dass es jemanden gab, der wohl ganz ähnlich dachte, fühlte und schrieb wie die spätere Jahrhundert-Gestalt Mahler. Und Rattle wäre nun wirklich eloquent genug, um diese buchstäblich irre Geschichte packend und lehrreich vor einem Live-Publikum auszubreiten. Aber: nein. Es blieb bei den Andeutungen und dem bloßen Abspielen dieser Noten, kein einziges Wort zu all dem auf der Bühne. Eine dramatisch verschenkte Chance, um zu erkennen, dass in der Musik vieles mit vielen zusammenhängt. Aber dennoch: alles andere als ein verunglückter Konzertabend. Im Gegenteil.

Vom Kleinen in den Großen Saal: Auf Opus 5 folgt Opus 6b

Denn das LSO und Rattle zeigten sich als ein „match made in heaven“. Schon die ersten „Blumine“-Takte machten klar, wie absolut gut aufeinander eingespielt und aufmerksam dieses Orchester ist: Hauchzartes Streicherflirren, und darüber schwebte, wie ein leises Streicheln aus abendlichem Sommerwind, diese Trompeten-Melodie. Totales Idyll, komplette, ergreifend schlichte Offenheit. Jedes noch so kleine Detail stand glasklar im Raum. Nahm die Harfe kurz innerlich Anlauf für eine Akkordbrechung, spürte man selbst das, bevor man es hörte. Der Holzbläser-Satz schmiegte sich in die Streicher-Begleitung, das Sätzchen bewegte sich wie auf Zehenspitzen. Allerliebst, wirklich allerliebst. Rattle liebkoste diese Musik geradezu aus dem Tutti heraus.

Die nächsten großartigen zehn Minuten gehörten einem weiteren oft verkannten Wiener: Anton Webern und seinen „Sechs Stücken für Orchester“, verewigt in der Musikgeschichte als Krawall-Beschleuniger beim legendären Wiener „Watschenkonzert“ 1913. Tolles Timing: Nachdem das Ensemble Resonanz am Vorabend Opus 5 des Schönberg-Schülers im Kleinen Saal gespielt hatte, folgte nun Opus 6b. Sechs abstrakte Studien, die in eine neue Welt führten.

Geschmeidige Disziplin im ganzen Orchester

Rätselhaft und faszinierend, wie Rattle diese Fremdlinge sezierte, sie aber nicht bl0ß unterkühlt behauptete, sondern als logisches Weiterdenken der an ihr Ende geratenen Harmonik nahbar leuchten ließ. Und schon wieder: unglaublich geschmeidige Disziplin, in jedem Bereich des Orchesters, von den kaum noch hörbaren Ahnungen von Bewegung bis zum brachialen Schlagzeug-Gewitter im vierten Abschnitt, den die Saal-Akustik problemlos aushielt. Ohrfeigen eines verstörten Publikums handelte sich Rattle damit, natürlich, nicht ein, stattdessen die nächste Portion dankbaren Beifalls.

In Rotts Scherzo jonglierte Rattle gekonnt mit diesem unwiderstehlichen Déjà-vu-Sog. Ständig erinnerte alles sehr an Mahler, hier und da noch ungezügelter triumphierend in den Fanfaren, mit etwas weniger Sarkasmus in den collagierten Stimmungsumschwüngen. Ein wahres Fest für einen so effektfähigen Dirigenten wie Rattle, das LSO hatte ebenfalls hörbar seinen Spaß.

Nach der Pause machte Rattle ähnlich temperamentstark weiter, mit Dvoraks Siebenter. Vier Sätze lang formte er große, packende Erzählbögen, kostete den Schwung aus und zeigte Seele und Schwermut. Erwartbar großartig, mit einem „Slawischen Tanz“ als Zugabe ordnungsgemäß abgerundet.

CD: Rott „Sinfonie Nr. 1 / Suite für Orchester“ hr-Sinfonieorchester, Paavo Järvi (RCA, ca. 7 Euro). Nächstes Rattle-Konzert: 23.2.: Schumann „Das Paradies und die Peri“ Staatskapelle Berlin, Anna Prohaska, Florian Boesch u.a. Elbphilharmonie, Großer Saal.