Hamburg. Der NDR-Chefdirigent in der Elbphilharmonie, sein Vorgänger in der Laeiszhalle: Was die beiden Abende unterscheidet.
Ob es Absicht war oder Zufall, wie auch immer es dazu kam, eine solche Kombination im Spielplan hat echten Seltenheitswert: Mozarts „Jupiter“-Sinfonie, zunächst mit dem jetzigen NDR-Chefdirigenten und seinem Orchester im neuen Konzertsaal der Stadt, und einen Abend später dasselbe – aber unüberhörbar nicht das gleiche – Stück, mit seinem Vorgänger beim NDR und dessen Ensemble im historischen Saal. Unterschiedlich kleine Besetzungen, um die 40 Instrumente. Unterschiedliche Orchesteraufstellungen: in der Elbphilharmonie aufgefächert, auf der kompakteren Laeiszhallen-Bühne mit den tiefen Streichern hinter dem Holz. Zwei sehr spezifisch hilfreiche Saal-Akustiken: beim NDR mehr HD-Panorama, bei den Balthasar-Neumännern eine detailfeine Klarheit, wie bei einer guten Vinyl-Pressung. Vor allem aber: komplett andere ästhetische Einstellungen.
Einerseits der auf Vielseitigkeit ausgerichtete Gilbert, der seinen Mozart mit respektvoller Freundlichkeit als das zeitlose, noble und formvollendete Meisterwerk, das es ist, zur Begutachtung auf einen fein polierten Sockel stellt. Andererseits der vom Wissen um historische Aufführungspraxis geprägte und auch mal getriebene Hengelbrock. Nicht nur Naturhörner, sondern auch bei den Holzbläsern historisch passendere Instrumente.
Ein rauerer, strafferer, sehnigerer Klang, knackiger hervortretendes Blech. Und eine Perspektive, die diese Sinfonie verortete, indem er sie eher vorwärts, zu Beethoven hin rückte, anstatt sie noch als ideenfunkelnde Haydn-Modernisierung darzustellen. Sicher, eine Versuchsanordnung für Interpretations-Gourmets, aber auch lehrreich, um auf kurze Distanz zu erkennen, wie sehr sich die beiden Chef-Charaktere bei der konkreten Umsetzung eines Klassikers unterscheiden. Wie unterschiedlich man Noten lesen und deuten kann.
Hier wie dort gab es enorm dankbaren Beifall
Weil beide, sowohl Alan Gilbert als auch Thomas Hengelbrock, ihre Auftritte gern mit etwas vergleichender Musikgeschichts-Pädagogik würzen, fanden beide interessante Ergänzungen: Gilbert kombinierte Mozarts 41. und letzte Sinfonie mit dem letzten der fünf Violinkonzerte – Hengelbrock wiederum grub andernorts nach Zusammenhängen und kam als Quasi-Ouvertüre zur letzten auf die allererste, kurze Sinfonie des gerade mal acht Jahre jungen Wolferls. Erst recht, weil ein tragendes Hornmotiv im langsamen Mittelsatz von KV 16 genau dem berühmten ersten Thema im Fugen-Finale der „Jupiter“ entspricht, obwohl 24 Schaffensjahre und mehr als 500 Köchel-Verzeichnis-Einträge dazwischen liegen. Kreise, die sich schließen, also, jeder auf seine eigene Art.
Auch bei diesen Rand-Programm-Teilen hätte man mit verbundenen Augen erkennen können, wer wer war. NDR-Konzertmeister Roland Greutter spielte seinen Solo-Part im A-Dur-Konzert fein und hübsch; das Tutti begleitete den Kollegen federnd und aufmerksam. Doch der Heimspiel-Vorteil sorgte auch für den kleinen, verschmerzbaren Nachteil, dass Reibung und Spannung fehlten oder hin und wieder litten. Greutter fädelte geradezu perfekt höflich ins wohltemperierte Gesamtgeschehen ein. Das ist immer schön, weil es so schön klingt, erst recht bei Mozart, aber durchgängig aufrüttelnd und mitreißend war es nicht.
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Hengelbrock dagegen bot auch zwei feine Einblicke in Mozarts-Opern: Susannas „Giunse al fin“ aus dem „Figaro“ und das Duett „Fra gli amplessi“ aus der „Così“. Katharina Konradi und Jonathan Abernethy waren dafür zwei passend schlanke, jugendfrische Stimmen. Alles allerliebst, und mit einem Hengelbrock, der das Orchester unmittelbar mit beiden atmen, fühlen, gestalten ließ.
Mozart wirkt, so oder so
Die instrumentale Klangrede der beiden Dirigenten hatte deutliche Dialekt-Differenzen. Wo Gilbert, bereits mit dem „Jupiter“-Einstieg die lange Linie suchte und die melodische Entwicklung formen wollte, da war Hengelbrock eher der Maestro für die Einzelteile und die Feinmechanik dieser Sinfonie. Er fügte Motivblöcke aneinander, setzte mit der Expertise des Barock-Dirigenten stark auf dramatisierendes Stop-and-Go, genoss es, scharfe Kanten stehen zu lassen und das Stück aufmüpfig gegen den Strich zu bürsten.
Gilberts Philosophie war eine andere. Er romantisierte das Andante, ließ es im Dämmerlicht und zauberte in den Details, während Hengelbrock hier unsanfter zupackte. Im Finale zogen beide die Tempi flott an. Hengelbrock zündete eine Rakete nach der anderen, Gilbert strebte nach vorn.
„Das wird auch wirklich Zeit, dasss wir uns wiedersehen...“, stoßseufzte der gerührte Hengelbrock nach dem „Jupiter“-Ende. Und, auf die Krise der Gegenwart hinweisend, berichtete er, das gesamte Ensemble sei „supersicher“, in Quarantäne gewesen, ständig durchgetestet worden. „Was nützt es uns“, fragte er danach so rhetorisch wie verzweifelt kämpferisch, „wenn wir den Leib beschützen und die Seele verdurstet?“ Die Zugabe war Bachs „Air“, ein Publikumsliebling als größter gemeinsamer Nenner, gefolgt von sehr langer, eindrücklicher Stille in der Laeiszhalle. Und hier wie dort enorm dankbarer Beifall. Mozart wirkt, so oder so.