Hamburg . Jubiläumskonzert vor leeren Rängen war von Enttäuschung über nächsten Corona-Lockdown überschattet. Ein Stimmungsbericht.

Da waren wir also wieder, einige Handvoll verdruckst halbfroher Zaungäste in Block K, als Zeitzeugen zugelassen. Daneben NDR-Mitarbeiter und Orchestermitglieder, die an diesem finsteren Freitagabend keinen Konzert-Dienst haben.

Vier Monate nach dem Ende der letzten, von Corona zerschossenen Spielzeit, nachdem ein NDR-Konzert mit Gast-Solist Igor Levit für und in gefühllos starrende Kameras gespielt wurde, im nun doch wieder geleerten Großen Saal der Elbphilharmonie. Denn obwohl dieser Raum ein Hochsicherheitstrakt ohne Ansteckungsgefahr sein dürfte, hatte man sich entschlossen, fünf vor Ende kein reguläres Live-Publikum mehr einzulassen. Wieder ein Ende, mitten in der zweiten zertrümmerten Saison, der Einschnitt ins Gemüt ging diesmal noch tiefer.

Es gab etwas Großes, geradezu Historisches zu feiern an diesem Abend. Aus dem Off kam die Grußbotschafts-Video-Stimme von Bundespräsident Steinmeier aus Berlin, dieses Orchester habe Geschichte geschrieben „und schreibt sie weiter“.

Sonderbare Stimmung an diesem Abend in der Elbphilharmonie

Doch es gab nur so wenig Befeierbares in diesem aktuellen Kapitel. Bei einem kurzen Treffen hinter den Kulissen hatte NDR-Intendant Joachim Knuth über die sonderbare Stimmung dieses Abends gesagt: „Das ist ein zwiespältiges Gefühl. Es hat etwas Bedrückendes, weil wir in eine vierwöchige Spielpause gehen, andererseits haben wir gesagt: Wenn wir es schaffen, diesen Geburtstag zu feiern, können wir wenigstens einen Teil des Geplanten unserem Publikum anbieten.“

Knuth sagte auch: „Wir wissen, wie wichtig Kultur ist für die Erbauung, für die Überwindung des Dunklen. Jetzt geht es darum, in dieser Reduktion auch noch Gefallen zu finden an dem, was wir künstlerisch aufführen.“

Einfach ist das nicht. „Lassen wir sie nicht im Stich, die Kultur, meine Damen und Herren!“, würde Steinmeier wenig später in seiner Freitags-Sonntagsrede einfordern. Viele fürchten allerdings gerade, dass genau das jetzt passiert und verheerende Auswirkungen auf die Kulturnation haben wird, da konnte der hiesige Kultursenator Carsten Brosda als Kurzgesprächsgast auf der Bühne noch so sehr betonen, wie dankbar er sei für jedes Stückchen Kultur, das stattfinde.

Verloren traurige Blicke im Orchester spürte man auf große Entfernung

75 Jahre NDR-Orchester also, großes Jubiläum, lange vorbereitet und geplant gewesen, und vom tollen Anlass für das Geburtstagskonzert war – obwohl und während sich alle größte Mühe mit dem Party-Make-Up gaben – doch nur eine arg durchsichtige Feierabend-Fassade übrig. Die verloren traurigen Blicke im Orchester spürte man auch auf große Entfernung. Dagegen anzumotivieren, war wirklich keine dankbare Aufgabe für einen Chefdirigenten.

In die gut abfilmbaren Sitzreihen neben dem Orchester hatte man Papp-Stargäste geparkt, lebensgroß aufgezogene Schwarzweiß-Fotos von früheren Chefdirigenten, Star-Gästen und Porträts von Komponisten. Ein Geisterspiel vor einer Orchester-Ahnengalerie, auf dem Programm standen wertbeständige Feiertags-Werke von Brahms und Tschaikowsky (Beethovens „Egmont“ -Ouvertüre fehlte, aus Zeitgründen).

Ein Orchestermitglied war kurz zuvor positiv getestet worden.

Fast wie beim allerersten Konzert also, damals mit Hans Schmidt-Isserstedt in der Laeiszhalle, wenige Monate nach Ende des Weltkriegs vor 75 Jahren. Wir sind kurz vor dem 2. November 2020, der nächste Lockdown steht vor der Tür. Geschichte mag sich nicht wiederholen – ungefragt richtig üble Pointen liefern, das kann sie. Denn ein Orchestermitglied war kurz zuvor positiv getestet worden.

Am Freitag fiel deswegen die Generalprobe aus. In Absprache mit dem Gesundheitsamt unterzogen sich alle im Bernhard-Nocht-Institut einem PCR-Schnelltest. Alle waren negativ und der NDR hatte gemeinsam mit der Elbphilharmonie beschlossen, nach einer Anspielprobe das Konzert passieren zu lassen, im Rahmen des jetzt noch Machbaren.

Diese Musikerinnen und Musiker wären mit ihrem zweiten Jubiläums-Konzert am morgigen Sonntag die letzten, nach denen man in diesem Saal das Licht vorerst ausgemacht hätte. Doch dafür hätte es wegen der 48-Stunden-Gültigkeit einen zweiten PCR-Schnelltest gebraucht.

Trompeten, Posaunen und Tuba ekamen sechs Auswärts-Spielplätze

Am Sonnabend wurde deswegen das Sonntags-Konzert ersatzlos gestrichen. Musikalisch machbar war am Freitag aber dann doch einiges, was wohl auch daran lag, dass sich Orchester und Chefdirigent inzwischen an die coronabedingte Löchrigkeit der Orchester-Sitzordnung gewöhnt haben.

Um die großen Abstände zwischen den einzelnen Instrumentengruppen und den motivischen Feinarbeiten nicht noch weiter aufklaffen zu lassen, schob Gilbert Brahms‘ Doppelkonzert mit viel Verve und durchgängig flotten Tempi energisch nach vorn. Spätromantischer, zartbitterer, wolkenverhangener und novembriger wurde das Stück dadurch eher nicht. Doch auch die Solisten, die Geigerin Julia Fischer und der Cellist Daniel Müller-Schott, mochten diese Grundhaltung offenbar. Sie spielten zügig mit und hielten sich selbst im verträumt vor sich hin zu singenden Andante nicht mit Ausschmachten auf.

Um anschließend Tschaikowskys Fünfte möglich zu machen, bekamen Trompeten, Posaunen und Tuba sechs Auswärts-Spielplätze in den Publikumsrängen hinter der Bühne. Für die innere Balance des Orchesterklangs war das stellenweise nicht allzu hilfreich, doch für Haltungsnoten und normale Umstände war dieses Notwehr-Arrangement auch nicht gedacht.

Es fehlte verständlicherweise die innere Ruhe

Im ersten Satz und zu Beginn des zweiten fehlte, verständlicherweise, die innere Ruhe, um die Spannung epischer Wehmut zu halten und jede Gefühlsregung unterhalb der Schwermetall-Episoden als Seufzer und Seelendrama auszukosten. Der Walzer im dritten Satz war nicht turnierreif dahingetanzt, sondern buchstabiert. Im Finale aber, verstärkt durch den Spezialeffekt des herausgehobenen Blechs, klang die Wucht an, die eine große Tschaikowsky-Sinfonie haben kann, wenn man sie von der Kette lassen darf.

Eine Wucht, die nun wieder Vergangenheit zu sein hat. Kameras können nicht applaudieren, die NDR-Kolleginnen und -Kollegen im Mittelrang konnten und wollten, unbedingt.

Jubiläumskonzert im NDR-Fernsehen zu sehen

Das Jubiläumskonzert ist am 31.10., 23.15 Uhr, im NDR-Fernsehen zu sehen. Es ist als Stream auf www.elbphilharmonie.de und www.ndr.de/neo abrufbar.

Auf der Facebook-Seite des Orchesters wird am 31.10., 19 Uhr, ein Jubiläums-Talk gezeigt: NDR-Chefdirigent Alan Gilbert spricht mit Christoph von Dohnányi, einem seiner NDR-Vorgänger, sowie Thomas W. Morris, dem ehemaligen Manager des Cleveland Orchestra, über Bedeutung und Aufgaben von Sinfonieorchestern.

Zweites Jubiläumskonzert fällt aus

Das für Sonntag, 1.11., 19 Uhr, geplante zweite Jubiläumskonzert findet nicht statt. NDR Kultur sendet auf dem dafür vorgesehenen Programmplatz von 19 bis 22 Uhr Aufnahmen aus dem Bestand des Orchesters, live im Studio: NDR-Chefdirigent Alan Gilbert.