Hamburg. Carsten Brosda über den Lockdown in der Kultur, die Stimmung unter den Künstlern – und warum er trotz allem optimistisch bleibt.

Die Corona-Krise verändert alles – unsere Kultur, unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft, unser Leben. „Ausnahme/Zustand“ heißt das neue Buch des Hamburger Kultursenators Carsten Brosda (SPD), in dem er sich mit den Folgen der Pandemie befasst. Ein Ausnahmezustand ist auch dieses Gespräch, weil es nicht persönlich stattfinden kann, sondern am Telefon geführt werden muss. Und es kommt ein weiterer Ausnahmezustand hinzu – aus den USA dringen widersprüchliche Wahlnachrichten. Brosda ist ein Kenner der Staaten. Von seinem Austauschjahr als Schüler in Texas bracht er die Liebe zum Country mit – und eine große Zuneigung zum Land.

Wir sprechen kurz nach den bislang unklaren US-Wahlen miteinander, kurz nach dem Anschlag von Wien und mitten im neuen kulturellen Lockdown. Ein November des Grauens, oder?

Carsten Brosda: Ehrlich gesagt: Das gesamte Jahr 2020 ist keines, das ich in die Top Five der bisher von mir erlebten Jahre einsortieren würde. Es zeigt allerdings ziemlich grundsätzlich, worauf wir achten müssen, es zeigt, wie sehr wir manche Aspekte der demokratischen Kultur in den letzten Jahrzehnten nicht ausreichend in den Blick genommen haben. Und es zeigt Spaltungen, die sich in Gesellschaften aufgetan haben. Ich habe im Sommer ein gutes Buch dazu gelesen, „Why we’re polarized“ von Ezra Klein, auf Deutsch „Der tiefe Graben“. Klein leitet darin sehr schön her, dass das, was wir jetzt erleben, seit mehr als 50 Jahren in der amerikanischen Politik angelegt ist. Besonders ist eher, dass die Republikaner, also die Konservativen, inzwischen sogar jemanden wie Trump weiterhin wählen, weil sie so sehr auf ihrer Position beharren. Nicht einmal ein solcher Typ kann sie davon abbringen, entlang der festgefahrenen Parteilinie zu wählen. Was uns Sorgen machen sollte: Kann das allen demokratischen Gesellschaften passieren? Damit ist man mittendrin in der Situation, in der wir uns befinden.

Corona in Hamburg, Deutschland und weltweit – die interaktive Karte

Das verbindende Problem ist die Schwächung des Glaubens an die Demokratie und an den Rechtsstaat?

Carsten Brosda: Ja, wobei ich eher „Vertrauen“ als „Glauben“ sagen würde. Der Verlust an Fähigkeit, miteinander in demokratischer Vielfalt umzugehen. Anzuerkennen, dass es eine Vielzahl von Positionen gibt, dass man sich auf das Abenteuer einlassen muss, gemeinsam herauszufinden, was denn nun eigentlich richtig ist. Das ist das Wesen demokratischer Kultur. Das kommt uns ja manchmal auch in Deutschland ein wenig abhanden. Ich bin hier nicht ganz so skeptisch wie in den USA, weil wir keine so scharfe Zweiteilung haben – aber die Unfähigkeit, mit Vielfalt umzugehen, habe ich das eine oder andere Mal auch in unserer Öffentlichkeit erlebt.

Wirkt die aktuell sich wieder verschärfende Corona-Situation als ein Verstärker, der Gesellschaft spaltet?

Carsten Brosda: Corona stellt die Gesamtgesellschaft vor die gleiche Aufgabe und nivelliert vermeintliche Unterschiede – einerseits. Andererseits ändert die Situation nichts daran, dass die Ressourcen für den Umgang mit der Herausforderung ungleich verteilt bleiben. Es entstehen also zum einen die Chance und Notwendigkeit, solidarisch zu sein, zum anderen ist es umso schwerer, diese Solidarität in die Tat umzusetzen, weil für viele der Druck erheblich zunimmt. Die Mär, dass wir alle entschleunigen und im Lockdown mal durchatmen, zeigt natürlich eine sehr eingeschränkte Perspektive von wenigen, die sich das leisten können.

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  • Aber spielt diese Entschleunigungs-Mär, die zum Corona-Narrativ im März und April gehörte, jetzt im November nicht eine eher untergeordnete Rolle? Manche befürchten, dass nun das Radikalisierunsgpotenzial wächst. Menschen fühlen sich „bestraft“ von den erneuten Restriktionen.

    Carsten Brosda: Mir begegnet die Mär der Entschleunigung durchaus noch – wenn auch nicht mehr so stark wie im März, das ist schon richtig. Mir begegnet auch die Emotion, die Sie beschreiben, aber ich sehe sie noch nicht als gesellschaftliche Mehrheitsposition. Ein sehr großer Anteil in der Bevölkerung findet nach meinem Eindruck die Beschränkungen weiterhin richtig. Die allermeisten verstehen, dass wir etwas tun müssen – auch weil wir in anderen Ländern ja sehen, was passiert, wenn man nicht oder nicht ausreichend reagiert. Die USA sind ein warnendes Beispiel: In dem Moment, in dem die Corona-Bekämpfung zu einem derartig politisierten Spielball wird, wie man es im letzten Dreivierteljahr dort sehen konnte, erkennt man, wozu das führt. Wenn die Frage, ob das Tragen einer Maske sinnvoll ist oder nicht – die man objektiv leicht beantwortet kann – zu einer Frage der politischen Auseinandersetzung wird, dann wird die Gesellschaft nicht mit solchen Herausforderungen zurechtkommen.

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    Finden Sie die erneuten restriktiven Einschränkungen richtig?

    Carsten Brosda: Ich finde es sehr richtig, dass wir deutlich sagen, dass wir Kontakte beschränken müssen. Dafür müssen wir die Bewegung im Raum einschränken. Wir haben lange Zeit gedacht und gesagt, dass wir das schon alles hinkriegen, wenn wir vernünftig sind und uns an die Regeln halten, die wir ja alle kennen. Seit ein paar Wochen und anhand des Infektionsgeschehens müssen wir aber feststellen, dass das so nicht mehr reicht. Wir müssen einfach konsequenter und generell mit den Begegnungen runter.

    Zwei Tage vor den Beschlüssen hatten Sie noch gesagt, man sei in der Elbphilharmonie und in der Oper „sicherer als zu Hause“ ...

    Carsten Brosda: Solange ich sicher davon ausgehen kann, dass wir dort, wo es notwendig ist, Abstand halten, Masken tragen und die Hygienepläne einhalten, ist das auch alles fein. Das ist in den meisten Kultureinrichtungen vorbildlich geschehen. In dem Moment, in dem wir aber generell Kontakte reduzieren müssen, weil die Infektionen steigen und die Anlässe diffus werden, betrifft das alle Gelegenheiten. Also zum Beispiel auch den Weg zur Oper oder wieder nach Hause. All das müssen wir dann vermeiden, um die Kontaktreduzierung hinzubekommen, die ja unisono von allen Forschungsinstituten gefordert wird. Es geht dann nicht mehr um die Sicherheit des einzelnen Ortes, es geht darum, Anlässe zu begrenzen. Die Kultur ist ja nicht allein dran. Wir wollen, dass die Kitas und Schulen offen bleiben – das sind wir unseren Kindern unbedingt schuldig. Und wir wollen das wirtschaftliche Leben so weit wie möglich am Laufen halten. Alles, was dann noch übrig bleibt, wird eingeschränkt.

    Und so kommt es zu dem unglücklichen Dreiklang aus Bordellen, Spielhallen und Konzertsälen.

    Carsten Brosda: Der so natürlich nicht zu akzeptieren ist! Offenbar wurde einfach eine Restkategorie gebildet, die man mit „Freizeit“ überschrieben hat und in die man alles reingepackt hat, was noch da war. Früher hätten wir das eine bunte Tüte genannt, wenn wir uns an der Bude Süßigkeiten gekauft haben. Da liegen dann Dinge unterschiedslos nebeneinander, die man eigentlich unterschiedlich behandeln muss. Man kann zu dem Schluss kommen, dass man alle diese Bereiche schließt. Aber die Frage, ob man all die Orte, an denen sich demokratische Kultur entlang von Kunstproduktion manifestiert, einfach abklemmt, wäre zumindest aufwendiger zu begründen, als es an der einen oder anderen Stelle der letzten Woche passiert ist.

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    Wie ist es denn möglich, die Bedeutung von Kultur, über die Kategorien „Freizeit“ und „Wertschöpfung“ hinaus, einer breiteren Gesellschaft zu verdeutlichen? Diese Debatte gibt es ja schon lange.

    Carsten Brosda: Das ist eine schwierige Aufgabe. Wenn wir den Blick auf das richten, was nach Corona kommt, müssen wir auch daran arbeiten. Und Sie sagen es, wir sprechen schon lange darüber: Kultur ist kein Luxusgut, Kultur ist nicht die Kirsche auf der Sahne … Was wir halt so seit Jahrzehnten an Metaphern haben, die sich durch Reden nicht nur von Kulturpolitikern ziehen. Immer wieder weisen wir darauf hin: Es geht um etwas viel Entscheidenderes.

    Kommt offensichtlich nicht ausreichend an, diese Botschaft.

    Carsten Brosda: Offensichtlich nicht. Vielleicht auch weil man darauf vertraut hat, dass das schon durch die Kunstproduktion allein funktioniert. Ich glaube aber, dass Corona da ein tiefgreifendes Nachdenken in der Kultur ausgelöst hat. Es wird auch darum gehen, sich damit systematisch auseinanderzusetzen: Was ist eigentlich die Konsequenz daraus, wenn die Kultur feststellt, dass sie keine ausreichende Lobby hat? Das sagen ja gerade viele Kulturakteure. Diese Lobby müsste man aber selber organisieren, das macht ja keiner für einen. Selber pro domo sprechen zu können, selber darauf hinweisen zu können, welche gesellschaftliche Relevanz man hat und warum es notwendig ist, die Kultur anders zu behandeln, das halte ich für wesentlich.

    Nicht jeder begabte Künstler ist auch ein begabter Kulturpolitiker ...

    Carsten Brosda: Ich komme ja aus der Sozialdemokratie. Als die Arbeiter sich zusammengeschlossen haben, war sicher auch nicht jeder in der Lage, große Reden vor der Belegschaft zu schwingen. Aber wenn man die Solidarität untereinander organisiert, wird sich schon jemand finden, der es kann. Für alle. Darüber müssen wir im Gespräch bleiben. Jetzt aber kommt es erst mal darauf an, ob wir es hinbekommen, im November diese Infektionswelle zu brechen.

    Halten Sie es für möglich, dass die Kulturinstitutionen ein drittes Mal schließen müssen?

    Carsten Brosda: Ich hoffe nicht, kann das aber nicht ausschließen. Wichtig ist, dass wir einen Mechanismus entwickeln, wie das ohne Schaden geschehen kann.

    Glauben Sie daran, dass es diesmal tatsächlich nur der November ist?

    Carsten Brosda: Das wäre Kaffeesatzleserei. Die Regeln gelten seit wenigen Tagen – ich kann noch nicht beurteilen, ob und wie sie wirken. Wenn wir jetzt aber vier Wochen konsequent und diszipliniert unsere Kontakte zurückfahren, kann es gelingen, die Welle zu brechen.

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    Carsten Brosda: Ökonomisch kann man das organisieren. In Hamburg haben wir schon im März vieles auf den Weg gebracht. Jetzt für den November hat der Bund gute Lösungen angekündigt. Mich treibt mehr die Sorge, wann die ersten die Hoffnung verlieren könnten, dass es ein Danach gibt.

    Was entgegnen Sie denn jemandem wie dem Hamburger Sänger Stefan Gwildis, der in einem offenen Brief an Angela Merkel formuliert, die Maßnahmen seien „ein weiterer Sargnagel für unsere Demokratie“?

    Carsten Brosda: Wenn man sich das dialektische Denken nicht ganz abgewöhnt hat, zeigt die Debatte ja, dass die Demokratie noch ganz lebendig ist: Der Widerspruch ist offensichtlich möglich. Schwieriger fand ich die fassungslose Sprachlosigkeit im März. In dem Moment, in dem jemand artikuliert, dass er anderer Meinung ist, kann ich ins Gespräch kommen – wenn es denn gelingt, dass wir einander vertrauen, dass wir alle etwas Vernünftiges wollen. Das, was wir momentan erleben, ist ein Ausnahmezustand, kein Dauerzustand. Und ich glaube zutiefst, dass das, was wir in der Kunst machen, etwas damit zu tun hat, wie wir als freiheitliche und offene Gesellschaft miteinander leben wollen. So verstehe ich auch die Perspektive der Kultur in Hamburg in den nächsten Jahren. Sie kann ein Treiber von grundsätzlichen gesellschaftlichen und auch wirtschaftlichen Fortschrittsprozessen sein.

    Der gesellschaftliche Stellenwert der Kultur ergibt sich ja auch aus dem Vergleich zu anderen Bereichen. Wenn Museen geschlossen sind, Galerien aber geöffnet, dann ist das ein besonders symbolhaftes Beispiel. Überspitzt gesagt: Konsum geht, Kunst geht nicht.

    Carsten Brosda: Ja. Das kann symptomatisch wirken. Jetzt aber zu sagen: Weil die Kunst zu ist, müssen wir auch alle anderen Bereiche des Lebens zumachen, wäre nicht richtig. Und würde übrigens auch nicht dazu führen, dass die Rahmenbedingungen zur Refinanzierung zuwendungsbedürftiger Kunst in den nächsten Monaten leichter werden. Wir haben überdies immer wieder erlebt, welchen Ausbruch von Kreativität es im Anschluss an solche Phasen gegeben hat.

    Werden wir in zwei Jahren noch so viele Clubs und Theater haben wie vor Corona?

    Carsten Brosda: Ich weiß, dass wir zumindest in der Kulturbehörde alles dafür tun. Was ich nicht weiß, ist, wer auf der Strecke den Mut oder die Perspektive verliert. Pessimistisch bin ich aber nicht. Durchs nächste Jahr kommen wir. Und ich hoffe, dass alle dabei bleiben. Die spannende Frage ist: Wie schnell kommt das Publikum wieder? Es beunruhigt mich schon ein bisschen, dass der eine oder andere sich an vermeintlich andere Quellen der Sinnsuche gewöhnen oder die eigene Couch langfristig attraktiv finden könnte. Wir werden uns da langsam ins Leben zurücktasten. Alle werden zögerlicher sein. Deswegen ist es so wichtig, wahrzunehmen, wie viel Arbeit sich die Kulturinstitutionen gemacht haben, um sichere Orte zu sein. Das Vertrauen ist ein wichtiger Punkt für die Frage: Gehe ich da hin oder lieber nicht?

    Vielleicht ist das am Ende auch eine der grundsätzlichen Fragen: Was macht die neue Distanziertheit auf Dauer mit unserem Miteinander?

    Carsten Brosda: Man sagt den Hanseaten ja immer nach, dass sie Distanziertheit im Alltag nun nicht als großes Problem empfinden. Wenn es nur das wäre, könnte man sagen, wir kommen da als Hamburger gut durch. Distanz können wir. Wichtiger ist, dass wir nicht vergessen, dass wir den Orten der Kultur nahe bleiben müssen, wenn wir wollen, dass sie auch in der Zukunft noch da sind.