Hamburg. Die Hamburger Kulturinstitutionen, die Politik und die Kirche feiern im Thalia eine Messe – Senator Brosda appelliert an Bayern.

An diesem Montag schließen also auch die Theater. Den Sinn der verschärften Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie verstehen die meisten Betroffenen. Dass die Kulturinstitutionen allerdings als Freizeitvergnügen behandelt werden, in Nachbarschaft zu Spaßbädern und Bordellen, stößt einigen übel auf.

Noch mehr Theatermacher stören sich daran, dass die Theater trotz ihrer ausgefeilten Hygienemaßnahmen (und trotz der Tatsache, dass es bei ihnen noch keine nachweisbaren Corona-Infektionen gab) schließen müssen, Kirchen und andere Gotteshäuser dagegen weiter öffnen dürfen, obwohl sich Gottesdienste mehrfach als Superspreader-Events erwiesen hatten.

Solidarität zwischen Kirche und Kultur

Aber es hilft nichts, die einzelnen Gruppen gegeneinander auszuspielen. Ohnehin haben Gottesdienste und Theater denselben Ursprung, die spirituellen Feiern im antiken Griechenland. Außerdem weiß Joachim Lux, Intendant am Thalia Theater: „Theater sind in gewisser Weise wie Kirchen. Nicht nur als re­ale Orte, sie haben auch eine symbolische Kraft.“

Wenn die Kirche also gemeinsam mit dem Theater einen „Gottesdienst der Künste“ zum Abschied in den Lockdown ausrichtet, dann mag das einem glaubensfernen Betrachter unangenehm sein; es ist aber ein Akt der Solidarität unter verwandten Institutionen.

Ein Gottesdienst im Thalia Theater

Am Sonntagnachmittag trafen sich Vertreter von Schauspielhaus, Kampnagel, Elbphilharmonie, Staatsoper, Musikszene und Kulturpolitik im Thalia The­ater, zu einer Messe unter dem Titel „Schönheit im Augenblick“. Hamburgs Kulturinstitutionen feierten die Freiheit der Künste, und Sieghard Wilm, Pastor der St.-Pauli-Kirche, predigte.

Wobei sich Wilm hier in Heidenland befand, klar. „Liebe Gemeinde der Kunstgläubigen, der Anders-, Wenig- oder Gar-nicht-Gläubigen“, begrüßte Thalia-Chef Lux die Anwesenden im maximal möglich besetzten Saal, damit war schon mal definiert, wer hierher gehörte, und wer nur zu Besuch war. Davon abgesehen: Was im Thalia passierte, war sehr wohl ein Gottesdienst, mit der ihm eigenen rituellen Form.

Es gab eine Schriftlesung – Wolfram Koch rezitierte die Apokalypse aus der Offenbarung des Johannes, mit Sinn für Humor, aber ohne die erschreckenden Passagen des Textes aus dem Blick zu verlieren. Es gab literarische Texte, Gerhart Hauptmanns „The­ater“ (satirisch dargeboten von Yorck Dippe und Jan-Peter Kampwirth), Franz Kafkas „Das Naturtheater von Oklahoma“ (konventionell als Schauspielhaus-Thalia-Koproduktion von Ute Hannig und Tilo Werner), es gab einen Segen von Bischöfin Kirsten Fehrs, die Hanns Dieter Hüsch zitierte: „Ich setze auf die Liebe.“ Und die Bühnentechnik hatte das noch aufgebaute Bühnenbild von „Network“ durch ein Neon-Kreuz ergänzt.

Corona: Brauchen wir mehr Nächstenliebe?

Vor allem gab es viel Musik. Von Frank Spilker, der den Geist der Hamburger Schule beschwor, von Global Feminist Bad[B]ass DJ Waxs, einem Kamp­nagel-Gewächs. Und von Nicolas Alt­staedt aus der Elbphilharmonie, der mit Bachs Suite für Violoncello-Solo freilich nicht über ein gewisses Unbehagen hinwegtäuschen konnte: Am Freitag war ein Corona-Fall im NDR Elbphilharmonie Orchester bekannt geworden. War es da eine gute Idee, eine Veranstaltung im Theatersaal zu organisieren, bloß, weil es bis auf Weiteres nicht mehr möglich sein dürfte? Ebenso beim Auftritt des Staatsopern-Chores: Chormusik! Bei der die Aerosole durch den Saal fliegen!

Pastor Wilm jedenfalls zeigte sich in seiner Predigt davon überzeugt: Ja, gute Idee! „Ohne Kunst und Kultur hat die Religion kein Kleid, der Glaube keinen Klang und keinen Geschmack.“ Wer mit pastoralen Formulierungen nichts anfangen kann, den dürfte auch diese Predigt nicht umgestimmt haben, trotzdem: Wilm hatte ja recht, ein Verzicht auf Kultur wird eine Verarmung des Alltags zur Folge haben. Zumal der Geistliche die Wut auf die „Freizeitvergnügen“-Kategorisierung kanalisierte. Gegen Vergnügen hat er nämlich gar nichts, als Reeperbahn-Anlieger. „Die Antwort auf das Virus kann nur sein, dass die Nächstenliebe viral wird“, kam er zum Schluss. Nicht ohne einen kleinen Schlenker zu wagen: „Wem das zu fromm klingt: Nennt es doch einfach Solidarität.“

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Die Fürbitten, die Kultursenator Carsten Brosda dann sprach, liefen in einer ähnlichen Spur. Der Sozialdemokrat bat um Einsicht in die Notwendigkeit von Disziplin, er bat aber auch darum, dass die Kultur mehr sein solle als Freizeitbeschäftigung: „Irgendwann wird man auch in Bayern und in der Uckermark feststellen, dass man dem heiligen Geist und der Erkenntnis nicht nur in der Kirche, sondern auch in der Kultur nahekommt.“ Als hätte seine Partei als Teil der Bundesregierung nicht die Entscheidungen und Formulierungen zum Lockdown mitgetragen.

Auch Kultursenator Carsten Brosda (SPD) gehörte zu den Rednern.
Auch Kultursenator Carsten Brosda (SPD) gehörte zu den Rednern. © HA | Marcelo Hernandez

„Das war der mit Abstand längste Gottesdienst der vergangenen Zeit“, meinte Bischöfin Fehrs zum Abschied: Zweieinhalb Stunden dauerte die Veranstaltung, halb Ritus, halb bunter Abend. Aber Pastor Wilm erinnerte sich an noch längere Feiern: Als er einige Zeit in Afrika gelebt habe, dauerten Gottesdienste mindestens vier Stunden, erzählte er.

Und in dieser Erinnerung scheint etwas durch, das jetzt erst einmal verloren ist: ein Gefühl der Maßlosigkeit und der Entgrenzung, das sowohl Glaube wie auch Kunst unbedingt brauchen. Und das zumindest im November hinter Abstandsregeln und Aufführungsverbote zurücktreten muss. Es ist zum Heulen.