Hamburg. Beatrice „Trixi“ Cordua eröffnet im Stück „Tanz“ das Internationale Sommerfestival – und überschreitet dabei Grenzen.

Die Tanzabende der Florentina Holzinger sind eine Herausforderung für das Ensemble und die Zuschauer gleichermaßen. Mal absolvieren ihre Tänzerinnen Artistik in schwindelerregender Höhe, dann wieder durchbohren sie ihre Körper mit spitzen Nadeln, bis Blut fließt. Kurz gesagt, nichts für schwache Nerven. Trotzdem – oder gerade deshalb – zählt die 34-jährige Österreicherin, die in Amsterdam studiert hat, derzeit zu den interessantesten Choreografinnen.

Ihre aktuelle Arbeit „Tanz“ wurde in diesem Jahr zum Berliner Theatertreffen der zehn bemerkenswertesten Arbeiten der Saison eingeladen. Und weil das gesamte Holzinger-Team sich in eine zweiwöchige Quarantäne begibt, darf „Tanz“ am 12. August die diesjährige „Special Edition“ des Internationalen Sommerfestivals auf der Bühne der großen Kamp­nagel-Halle K6 eröffnen.

Verstehe nicht, warum man nicht als fast 80-Jährige nackt auf die Bühne gehen sollte

Dann steht auch Beatrice „Trixi“ Cordua auf der Bühne, lebende Ballett-Legende und langjährige Erste Solistin im Hamburg Ballett John Neumeiers, außerdem Tänzerin bei Johann Kresnik – und inzwischen 79 Jahre alt. Sie ist die zentrale Dompteuse auf der Bühne, navigiert die neun Tänzerinnen durch Übungen an der Stange im Geiste des neoklassischen Balletts „La Sylphide“ (1832). „La Sylphide“ ist bis heute der Inbegriff des romantischen Balletts mit seinem Spitzentanz, den Tutus und dem Bild schwebender Unschuldsfeen. Das allerdings ist erkauft mit allerlei Trainingsqualen, die die Tänzerinnen regelrecht entkörper­lichen, so jedenfalls die feministische Lesart Florentina Holzingers.

„Trixi“ Cordua bewegt sich – wie bald auch das gesamte Ensemble - hüllenlos auf der Bühne. „Das ist scheinbar ärgerlich für viele Leute, aber ich verstehe nicht, warum man nicht als fast 80-Jährige nackt auf die Bühne gehen sollte. Ich habe kein Problem, mich zu zeigen. Das Leben ist so“, sagt sie munter durchs Telefon aus Berlin-Neukölln.

So könnten auch Vorstellungen aussehen: draußen und mit Abstand. András Siebold (hinten, r) künstlerischer Leiter des Internationalen Sommerfestivals, stellt sein Programm vor.
So könnten auch Vorstellungen aussehen: draußen und mit Abstand. András Siebold (hinten, r) künstlerischer Leiter des Internationalen Sommerfestivals, stellt sein Programm vor. © dpa | Jonas Klüter

Und wie gerät eine Senior-Ballett-Legende an eine junge wilde Choreografin? Vor sechs Jahren fanden Holzinger und Cordua am Rande einer Diskussion über Radikalität im Tanz zusammen. „Wir haben uns auf Anhieb gemocht“, erinnert sich „Trixi“ Cordua. „Das war mir alles sehr nah, und es hat mir gefallen.“ Als dann die Anfrage kam, habe sie einen Moment überlegt, dann aber freudig zugesagt. „Ich bin ganz früh mit den Wiener Aktionisten um Otto Muehl in Verbindung gekommen. Auch mit dem amerikanischen Filmemacher und Performer Jack Smith. Das hat mich unheimlich geprägt. Das war immer eine andere Seite in mir“, sagt die jetzige Berlinerin.

Cordua sorgte schon 1972 für einen Skandal in der Ballett-Welt

Grenzen überschreiten, experimentieren, das ist seit jeher Corduas Ziel auf der Bühne. Auf andere Weise hat sie das auch bei John Neumeier getan, bei dem sie ihr halbes Leben als Erste Solistin getanzt hat, darunter 1972 ein legendäres Solo in der Hamburger Version von Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ – auch damals war sie nackt. Die Aufführung sorgte für eine Kontroverse.

Die Ballett-Welt hatte einen Skandal. „John Neumeier ist ein ganz ungewöhnlicher Künstler und Mensch. Die Arbeit war wunderbar. Er hat mich nie eingeengt“, erzählt Cordua. „Vielleicht hat er einige Dinge nicht verstanden, die ich wollte.“ Ästhetisch habe sie manchmal Probleme mit den Choreografien gehabt, einfach deshalb, weil ihr im Tanz extremere Dinge vorschwebten.

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Prägend waren die Jahre in Hamburg in jedem Fall. Cordua lernte George Balanchine kennen, den großen Meister der Neoklassik,und trainierte bei Merce Cunningham, dem Wegbereiter des zeitgenössischen Tanzes. Acht Jahre lang unterrichtete sie später an Neumeiers Schule – bevor sie als Trainingsleiterin und Tänzerin zu Johann Kresnik an die Berliner Volksbühne ging. Bis heute arbeitet sie als freie – und häufig freizügige - Tänzerin und Choreografin.

"Krasse Sachen haben mich immer interessiert“

Die in „Tanz“ kritisierte Übergriffigkeit gegenüber dem zu höchster Virtuosität getriebenen weiblichen Körper, die derzeit in der Ballett-Szene heftig diskutiert wird, kann Beatrice Cordua aus eigener Erfahrung nicht teilen. „Ich liebe das Ballett. Meine Ausbildung an der Royal Ballet School war großartig, und ich bin dankbar für die Jahre mit Neumeier und Kresnik. Krasse Sachen haben mich immer interessiert“, sagt sie. „Florentina ist fast der Höhepunkt.“

Nicht alle hatten so viel Glück. Jüngst musste der Leiter der Staatlichen Ballettschule Berlin seinen Hut nehmen. Es gab bittere Vorwürfe wegen Kindeswohlgefährdung, Bodyshaming und Mobbing. „Ich habe nie mit dummen, banalen Leuten gearbeitet“, sagt Beatrice Cordua. „Ballett ist hart. Das ist keine einfache Disziplin. Ich habe großartige Lehrer gehabt mit einer philosophischen Haltung. Sie haben auch Härte gezeigt, aber das muss sein. Man sucht nach einem neuen Muskel, versucht stofflich noch besser zu arbeiten, das bringt dann auch Spaß.“

Beim Training gehe es darum, die eigenen Grenzen auszuloten. Und genau das versucht auch das rein weibliche Ensemble in „Tanz“. Bei allem Experiment ist der Geist von „La Sylphide“ noch vorhanden. Sie verspüre da noch ein ganz starkes Gefühl von Romantik. Dieses Schweben, das Streben danach, vom Boden loszukommen, sagt Beatrice Cordua. „Holzinger liebt das Ballett, aber in seiner Ambivalenz und Widersprüchlichkeit. Sie fragt immer danach, wie weit sie gehen kann mit dem Körper und bringt dabei Disziplinen zusammen wie Tanz, Sport und Artistik.“ Auch wenn auf der Bühne manch schmerzvolle Aktion zu sehen sein wird, hat Cordua selten so schöne Proben erlebt. „Das ist ein Feminismus, den ich gut finde, weil er den Mann nicht total ausschließt, auch die Schönheit nicht.“

Nun arbeitet sie erst einmal an ihrem Text, denn auf der Bühne hat sie auch die größte Sprechrolle. Während des Corona-Stillstandes hat das Ensemble dreimal die Woche mit Florentina Holzinger ein Online-Workout absolviert, jetzt freut sich „Trixi“ Cordua auf die Quarantäne-Zeit mit dem Team in einem Hotel außerhalb von Hamburg. Derzeit erschwere ein Hüftleiden ein regelmäßiges Training. „Aber“, sagt sie und seufzt, „irgendwann möchte ich auch wieder an die Stange“.

Florentina Holzinger: „Tanz“ Mi 12.–Fr 14.8., jew. 20.30, Sa 15.8., 19.00, Kampnagel-Halle K6 beim Internationalen Sommerfestival, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de