Hamburg. Ihre Kindheit auf der Veddel sieht die Hamburger Musikerin mit gemischten Gefühlen. Jetzt spielt sie beim Kampnagel-Sommerfestival.

„Mein Sommer ist zum Herbst geworden, seid du fort bist““, singt Derya Yıldırım auf dem ersten Album, das sie mit ihrer Grup Şimşek aufgenommen hat. „Das Herz ist ausgelaugt, das Leben aus mir geflossen.“ „Kar Yağar“ heißt das Lied, aus dem die traurigen Zeilen stammen, und die 26-Jährige steigt hinab in diese Welt des Liebeskummer mit einer Stimme voller Melancholie und Sehnsucht, die doch völlig frei von Kitsch und Pathos bleibt.

Auf Türkisch singt sie, in der Sprache ihrer Eltern, die in den achtziger Jahren aus Anatolien nach Norddeutschland gekommen sind. Auf der Veddel ist sie aufgewachsen, zur Schule gegangen, ein „Kind des Hamburger Hafens“ geworden - und inzwischen zu einer viel beschäftigten Musikerin, die pro Jahr bis zu 80 Konzerte spielt und gemeinsam mit dem Ensemble Resonanz auch schon in der Elbphilharmonie aufgetreten ist. Am 16. August wird sie beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel „Derya’s Songbook“ (ein gemeinsames Projekt mit dem Ensemble Resonanz und dem Körber Resonanz Labor) präsentieren, am 3 September auf dem Lattenplatz vor dem Knust ein Solokonzert geben. Dazu kommen coronabedingt immer wieder Streaming-Auftritte, etwa ein auf der MS „Stubnitz“ gedrehter, für den sie aus Berlin, wo sie seit vier Jahren lebt und studiert, nach Hamburg gekommen ist.

Derya Yıldırım war das Vorzeige-Migrantenkind

In Jeans und Wollpullover sitzt Derya Yıldırım im Baakenhafen auf dem Oberdeck und erinnert sich an die mehr als zwei Jahrzehnte in Hamburg. Ihr Vater hat sie damals zur Musik gebracht. Nach Feierabend und am Wochenende spielte er die Bağlama, eine Langhalslaute, die auch seine Tochter lernen sollte. In der Musikschule habe sie Klavier- und Saxofonunterricht bekommen, neben der Bağlama auch die Oud, eine weitere Laute, erlernt.

Viel Spaß habe ihr das gemacht und ziemlich diszipliniert sei sie gewesen, auch wegen ihres Vaters: „Ich wusste, dass ich Ärger kriege, wenn ich nicht übe“, sagt sie mit einem Lächeln und erzählt von der türkischen Musiker-Community, die sich freitagabends immer in Hammerbrook traf. In den dortigen Ensembles habe sie meist „mit älteren Herren“ zusammengespielt. „Die haben mich auf Händen getragen, weil ich das einzige Mädchen war.“

In diese Zeit fallen auch Erlebnisse, die sie heute mit gemischten Gefühlen betrachtet. „Damals hab ich mich gefreut, wenn ich bei Veranstaltungen als Vorzeige-Migrantenkind angekündigt und für meine Leistungen gelobt wurde, aber inzwischen fühle ich mich richtig schlecht damit.“ Sicher, sie sei die Erste, die in ihrer Familie studiert, die Erste, die professionelle Musikerin geworden ist, aber: „Ich definiere mich weder als Türkin noch als Deutsche, ich bin einfach ein Mensch.“ Zwar sei sie als Kind und Jugendliche in den Sommerferien mit der Familie oft in die Türkei gereist, habe dort aber weniger selbst Heimatgefühle entwickelt als vielmehr verstanden, was die Wurzeln der Melancholie und Sehnsucht ihrer Eltern ist.

Yıldırım lebt auf zwölf Quadratmetern in Berlin

Schon mit 18 zog sie zu Hause aus, bestand die Aufnahmeprüfung an der Hamburger Musikhochschule und begann ihr Studium, später wechselte sie nach Berlin an die Universität der Künste. Sie studiert Musik und Deutsch auf Lehramt und hat inzwischen ihren Bachelor gemacht. Aber wie es weitergeht, weiß sie nicht so recht. Als Lehrerin sieht sie sich eigentlich nicht, die Dreifaltigkeit Heirat/Kinder/Haus ist für sie kein Zukunftsmodell.

Also ganz auf die Musik setzen? Leben könne sie schon seit Jahren davon, sagt Derya Yıldırım – allerdings sind ihre Ansprüche nicht sehr hoch, wohnt sie derzeit doch auf zwölf Quadratmetern in Berlin-Neukölln.

Eltern sind die größten Fans

Aber ihr geht es eben nicht um Materielles, das wird an diesem Nachmittag in Hamburg sehr deutlich. Begeistert erzählt sie etwa von Straßenmusik, die sie in Berlin während der coronabedingten Schließung aller Clubs und Konzerthallen gemacht hat. Und wer sie einmal live erlebt (oder auch nur ihre Platten hört), spürt sofort, dass Musik ihr alles bedeutet. Mit Grup Şimşek spielt sie eine Art psychedelischen Pop, tief verwurzelt in der türkischen Musik, voller Sinnlichkeit und mit einer rhythmischen Verführungskunst, die bei Konzerten kaum stillstehen lässt. Wenn sie solo auftritt, die Bağlama spielt und singt, ist das von einer unmittelbarer Intensität, die zu Tränen rühren kann.

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Längst wird Derya Yıldırım international zu Konzerten eingeladen und findet auch ohne nennenswerte Social-Media-Aktivitäten ihr Publikum. Die größten Fans allerdings sind ihre Eltern, sagt sie. Die kommen zu jedem Konzert, sind sogar nach Brüssel gereist, als ihre Tochter dort das Vorprogramm für die legendäre Sängerin Selda Bağcan bestreiten durfte. „Sie sind sehr stolz auf mich.“

Natürlich werden sie auch auf Kampnagel und am Lattenplatz dabei sein und für ihre Derya klatschen. Für ihre Tochter, deren Musik Herzen öffnet.

„Derya’s Songbook“ mit dem Ensemble Resonanz beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel So 16.8., 18.00 und 21.00

Solo-Konzert auf dem Lattenplatz vor dem Knust Do 3.9., 18.00