Hamburg. Theater sind von echten Menschen abhängig. Joachim Lux über die Herausforderung, während der Krise einen Spielplan zu gestalten.

Premieren gehören für Joachim Lux zum Theater-Alltag, an diesem Sonnabend hätte „Network“ auf dem Spielplan gestanden. Eine Premiere ganz anderer Art hatte der Thalia-Intendant darum gar nicht auf dem Zettel, als alle Theater Mitte März virusbedingt schließen mussten: „Ich habe gerade das erste Mal seit ungefähr 30 oder 35 Jahren das, was normale Menschen eigentlich immer haben: Wochenenden!“

Weniger Arbeit allerdings hat Joachim Lux trotzdem nicht („Die fünf Wochen, die uns diese Schließung jetzt begleitet, haben sich angefühlt wie in der Waschmaschine im Dauerschleudergang“), auch das ist eine Erfahrung, die er mit vielen Verantwortlichen im Kulturbereich teilt. Bloß umfasst seine Arbeit nicht das, worum es an Theatern sonst hauptsächlich geht: Kunstproduktion.

Hamburger Abendblatt: Wenn eine Gesellschaft in Unruhe gerät, dann beschäftigt das die Künste. Insbesondere das Theater. Wie hilflos fühlen Sie sich an dieser Stelle?

Joachim Lux: Hilflos fühle ich mich eher da, wo ich nicht mehr handlungsfähig bin. Wo ich überlegen muss: Wann spielen wir, wann können wir proben? Was die künstlerischen Inhalte angeht, finde ich diese Zeit – das darf man ja fast gar nicht sagen – sogar anregend, aufregend und inspirierend. Da bin ich nicht verzagt, sondern eher optimistisch und lebenslustig.

Ihnen fehlt nicht die Möglichkeit der künstlerischen Reflektion?

Lux: Doch. Was ich meine, sind mögliche kreative Energien für die Zukunft. Der Digitalisierungsschub wird uns da helfen – aber er ist natürlich nur ein Ersatz. Ich glaube nicht, dass wir als Gesellschaft oder als Künstler nur ein paar Monate lang schlecht träumen und danach ist alles wie vorher. Und ich meine die Kunst, nicht den Betrieb. Ich stelle mir zum Beispiel die Frage: Sind wir vielleicht in der Vergangenheit eine zu perfekte Kulturproduktionsstätte gewesen? Die immer termingerecht und halbwegs perfekt liefert? Vielleicht steht vor uns eine Zeit, in der wir unsere Arbeit viel offener, viel roher und fragmentarisierter präsentieren. Wir müssen die Erfahrung mitnehmen in unsere ästhetische Umsetzung. Das ist mein Empfinden – am Ende müssen es natürlich die Künstler so machen, wie sie es für richtig halten.

Was fehlt der Gesellschaft akut und vielleicht ja noch über eine lange Strecke, wenn das Theater ausgebremst ist?

Lux: Ich fange mal in einer anderen Ecke an. Gerade gab es doch dieses große digitale Charity-Konzert, bei dem die Rolling Stones dabei waren und Lady Gaga und andere. Das kann man ja alles sehr amerikanisch finden, aber die Grunderfahrung ist doch die: Wenn Menschen sich schlecht fühlen, wenn sie in der Krise sind, dann tun sie offenbar zwei Dinge – singen oder sich vorsingen lassen und sich Geschichten erzählen. Beides geht im Moment nicht so, wie es angemessen wäre, aber das Bedürfnis ist da.

Aber es gibt ja kein Genre, das so sehr von der Begegnung echter Menschen abhängig ist wie das Theater.

Lux: Ja, das Theater ist doppelt gekniffen: Es lebt davon, dass Zuschauer und Schauspieler körperlich anwesend sind. Und es lebt davon, dass auf der Bühne Menschen ohne Kontaktbeschränkungen miteinander Dinge verhandeln. In beiden Punkten sind wir lahmgelegt. Theater ist die ästhetische Repräsentation der Welt – das fehlt jetzt komplett. Das soll keine Beschwerde sein, denn es kann ja niemand etwas dafür, und ich will unser Genre jetzt auch nicht überschätzen – aber ich glaube, wenn das über längere Zeit ausbleibt, hat es etwas von einem innerlichen Verstummen. Wenn das gemeinschaftliche Größere fehlt, stirbt eine Gesellschaft von innen. Die ausbleibenden internationalen Gastspiele sind an dieser Stelle vielleicht unsere größte Niederlage: Sich nicht im Theater mit einer Welt außerhalb der eigenen beschäftigen zu können, auch über sprachliche Hürde hinweg – das empfinde ich als eine sehr tiefgreifende Beschädigung. Spannend finde ich dagegen, wie sich der Blick auf das, was irgendwann wieder auf den Bühnen verhandelt wird, verändert. Unsere Inszenierung „Network“ zum Beispiel, die an diesem Wochenende Premiere gefeiert hätte, erzählt aus der Frühgeschichte des Privatfernsehens und thematisiert, wie Medien mit Inhalten umgehen. Dieser Stoff würde durch die medialen Erfahrungen der Coronazeit völlig anders rezipiert werden.

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Diese Spielzeit ist seit einigen Tagen auch offiziell beendet. Das Thalia hätte im April eigentlich einen neuen Spielplan verkündet. Wie planen Sie die nächste Saison?

Lux: Die Hypothese ist: Wir spielen von September an wieder. Unter einer Voraussetzung – dass wir wieder proben können.

Wie sind da die Signale?

Lux: Wir arbeiten daran. Ich finde ja, dass die Politik – von ein paar föderalistischen Absurditäten mal abgesehen – relativ geordnet und souverän agiert. Wir sind auch mit allen Maßnahmen einverstanden. Aber nach diesen fünf Wochen kommen wir in eine Phase, in der sich manche Ungenauigkeit rächt. Es sind so viele unterschiedliche Handlungsentwürfe unterwegs, manche widersprechen sich. Wenn wir von Risikominimierung sprechen, können wir agieren. Wenn wir von kompletter Risikovermeidung sprechen, können wir nicht agieren. Mit zwei Metern Abstand und Plastikabschirmung zu spielen, mag im Einzelfall lustig sein, aber das ist natürlich künstlerisch keine Perspektive. Ich habe gestern mit einem Schauspieler telefoniert und wir haben scherzhaft überlegt, ob wir künftig eher unter Schulklassenregelungen fallen oder eher unter Kita. Er meinte, und das sehe ich auch so, wir sind hier eindeutig eine Kita! (lacht)

Inwiefern beeinflusst die Coronakrise den nächsten Spielplan?

Lux: Zunächst einmal befanden sich die Inszenierungen, die noch für diese Saison geplant waren, alle bereits in der Produktion. Die nicht mehr zu zeigen, das wäre Ressourcenverschwendung. Da haben Schauspieler, Regisseure und Tischler dran gearbeitet, da steckt Arbeitskraft und Material drin. Es wäre nicht sinnvoll, das zu streichen.

Außerdem sind die Inszenierungen vielleicht ja auch gut...

Lux: Allerdings! Und es sind auch nicht wenige: Vier Produktionen im Großen Haus und eine in der Gaußstraße, das ist fast die Hälfte der Jahresproduktion, das versuchen wir zu retten. In der Folge müssen wir auf das eine oder andere in der kommenden Saison verzichten. Vermutlich müssen auch Projekte entfallen, von denen wir ausgegangen waren. Eigentlich sollte ein Regisseur aus dem Iran die Saison in der Gaußstraße eröffnen – ich kann mir jetzt nicht vorstellen, dass da eine Probenarbeit möglich ist.

Coronavirus: Verhaltensregeln und Empfehlungen der Gesundheitsbehörde

  • Reduzieren Sie Kontakte auf ein notwendiges Minimum und halten Sie Abstand von mindestens 1,50 Metern zu anderen Personen
  • Achten Sie auf eine korrekte Hust- und Niesetikette (ins Taschentuch oder in die Armbeuge)
  • Waschen Sie sich regelmäßig die Hände gründlich mit Wasser und Seife
  • Vermeiden Sie das Berühren von Augen, Nase und Mund
  • Wenn Sie persönlichen Kontakt zu einer Person hatten, bei der das Coronavirus im Labor nachgewiesen wurde, sollten Sie sich unverzüglich und unabhängig von Symptomen an ihr zuständiges Gesundheitsamt wenden

Inwiefern wird Corona den Spielplan inhaltlich beeinflussen?

Lux: Es muss erlaubt sein, Dinge zu tun, die nichts mit Corona zu tun haben. Manche Projekte aber eignen sich dazu, dass man geschärft oder anders über sie nachdenkt. Obwohl sie weder wegen noch gegen Corona gedacht waren, einfach weil sich neue Interpretationsansätze öffnen könnten. Was wir vor allem brauchen, ist ein Zeichen des Lebens. Das klingt jetzt ganz kitschig, aber es muss hier Luft rein für die Lebenssehnsucht und für die Verzweiflung der Menschen. Das gesamtgesellschaftliche Dauer-Cocooning birgt die Gefahr einer Überhitzung. Ich frage mich schon: Gibt es Stoffe, die diese Kasernisierung im Familienkreis erzählen? Stoffe, die nicht dafür entstanden sind, aber Erkennungsmomente vorhalten.

Einen „Ivanov“ mit seiner hustenden Frau würde man jetzt wohl auch ganz anders schauen...

Lux: Absolut. Und Fragen von Distanz und Nähe finde ich grundsätzlich interessant. Das soziale Empfinden verändert sich, Höflichkeit wächst. Das sind Themen, mit denen wir uns beschäftigen sollten. Und dann muss ich viel an einen Satz von Peter Zadek denken, der immer gesagt hat: Wenn es den Menschen schlecht geht, wollen sie lachen.

Soll heißen, Sie suchen nach Komödien?

Lux: Nee, das nun auch nicht. Aber wir machen halt auch keinen Corona-Themenspielplan. Im Moment wissen wir ja gar nicht, wann und wie wir spielen sollen und können.

Wie sind denn da Ihre Überlegungen und Ideen? Es könnte für ein Haus mit vielen kreativen Abteilungen ja auch eine nicht unspannende Aufgabe sein, wie man die Kunst künftig zum Menschen kriegt.

Lux: Wenn wir von der Abstandsregel ausgehen, geht es ja gar nicht anders, als die Zuschauer locker zu setzen. Wobei das vielleicht auch eher symbolisch wäre, denn wenn ein Schauspieler spricht, fliegt das Aerosol eher fünf Meter als anderthalb. Und es ist damit ja nicht getan – wie gestalten wir die Pausen, wie den Einlass und die Foyersituation, wie die Besucherströme. Daran sind neben mir der Geschäftsführer, der Betriebsdiektor, der Verwaltungsdirektor und das Vorderhaus mit der Kasse beteiligt. In unserer „Gefährdungs-Taskforce“ ist auch unsere Sicherheitsfachkraft und unsere Betriebsärztin, die praktischerweise Infektiologin ist. Das Problembewusstsein ist also hoch und dass die Spielzeit letzte Woche offiziell beendet wurde, war für uns hilfreich und hat mich weder überrascht noch schockiert.

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    Haben Sie Bedenken, dass die Menschen sich an theaterfreie Abende gewöhnen könnten und plötzlich merken, wie bequem es doch bei Netflix ist?

    Lux: Nicht im geringsten. Wir hoffen, dass die Entzugserscheinungen so enorm werden, dass die Wertschätzung umso größer sein wird, wenn wir wieder da sein können. Gedanken mache ich mir ein bisschen über eine andere Form der Verwundung: die Ängstlichkeit, die vermutlich auch dann noch da ist, wenn die Theater wieder öffnen. Aber wir haben aus der Virologie jetzt gelernt, dass wir Menschen eine Herde sind! Das finde ich eine gute Nachricht. Dass wir uns zusammenfinden wollen, dass wir nicht allein bleiben wollen, dass ist unausrottbar in uns angelegt, davon bin ich zutiefst überzeugt. Die geschickte Olaf-Scholz-Formulierung der „neuen Normalität“ ist dabei wohl richtig. Es wird nicht so sein wie vorher. Und wenn wir schon über Altbürgermeister sprechen: Ich traf kürzlich Klaus von Dohnanyi, der mir nüchtern sagte: Die Natur will leben. Er meinte damit nicht uns – er meinte das Virus. Der Lebensdrang dieses Virus ist brutal und unendlich groß. Aber unser Lebensdrang ist auch unendlich groß.

    Thalia Online: Lux und Brosda über „Network“

    • Die Premiere von „Network“ sollte an diesem Sonnabend stattfinden, eine Bühnenbearbeitung des Films von Paddy Cha­yefsky (1976) in der Regie von Jan Bosse. Stattdessen beschäftigt sich das Thalia Theater online mit dem Stoff.
    • „Network in Progress“ ist ein Blick hinter die virtuellen Kulissen, Regisseur Jan Bosse und sein Ensem­ble (u. a. Christiane von Poelnitz, Wolfram Koch) geben einen Einblick in die digitalen Proben.
    • Auf der leeren Bühne und vor dem leeren Zuschauerraum haben sich zudem Thalia-Intendant Joachim Lux und Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda (zu dessen Lieblingsfilmen Cha­yefskys „Network“ gehört) zum Gespräch vor der Kamera getroffen, Thema: „Network – Kultur und Medien in Zeiten von Corona“.
    • Beide Programme beginnen am 25. April um 19 Uhr auf thalia-theater.de