Hamburg . 1,2 Millionen Euro für „Digital Benin“. Die Nachwirkungen des Kolonialismus prägen in Hamburg auch heute noch unseren Alltag.

„Wir haben in der Schule noch gelernt, dass die Deutschen beim Kolonialismus nicht die Schlimmsten waren!“, erzählt Kampnagel-Dramaturgin Nadine Jessen. „Und ich war total erleichtert: Endlich waren die Deutschen mal nicht so schlimm!“ Der Kolonialismus als eines der großen Menschheitsverbrechen wurde hierzulande lange ignoriert: Deutschland hatte Kolonien, aber nur wenige und ganz kurz, und außerdem habe man sich da verhältnismäßig gut benommen – so wurde noch vor ein paar Jahren gedacht.

Das hat sich geändert, auch wenn sich in Ohlsdorf weiterhin der Woermannsweg am Alster-Oberlauf entlangschlängelt, eine hübsche Wohnstraße, die sich auf den eng mit der Etablierung der deutschen Kolonien verbundenen Kaufmann Adolph Woermann bezieht. Aber seit 2017 die Ovaherero und Nama eine Klage gegen die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches wegen Völkermordes ab 1904 anstrengten, dämmert auch knallharten Kolonialismusverklärern, dass nicht alles in Ordnung gewesen sein dürfte, Anfang des vorigen Jahrhunderts in Deutsch-Südwestafrika.

Zur Zusammenführung der königlichen Kunstschätze gehören auch diese Leopardenfiguren-Paar aus dem 16.-18. Jahrhundert.
Zur Zusammenführung der königlichen Kunstschätze gehören auch diese Leopardenfiguren-Paar aus dem 16.-18. Jahrhundert. © National Commission for Museums and Monuments Nigeria

Gerade hat das MARKK, das Museum am Rothenbaum, begonnen, die weltweit zerstreuten Objekte aus dem ehemaligen Königreich Benin unter der Überschrift „Digital Benin“ zu katalogisieren, die Zusammenarbeit zwischen europäischen, nigerianischen und amerikanischen Forschern ist explizit als Akt der Kolonialismusaufarbeitung zu verstehen. Das Portal soll 2022 als ein „beispielloses Wissensforum“ online gehen. Finanziert wird das Projekt deutscher, nigerianischer, europäischer und amerikanischer Experten und Expertinnen mit mehr als 1,2 Millionen Euro von der Ernst von Siemens Kunststiftung. MARKK-Direktorin Barbara Plankensteiner leitet das internationale Kerntteam, das Projekt entsteht in enger Zusammenarbeit mit einer Benin-Dialog-Gruppe, der der Königshof Benin, das Edo State Government und die National Commission for Museums and Monuments Nigeria sowie alle europäische Museen mit bedeutenden Benin-Sammlungen angehören.

Am Projekt sind zwei Hamburger und ein nigerianischer Doktorand beteiligt

Professor Jürgen Zimmerer, führender Historiker auf dem Feld der Kolonialismusforschung und Leiter der Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“, weiß: „Der Kolonialismus wird, vereinfacht gesagt, im Kopf vorbereitet und ist unterfüttert von Konstruktionen des Anderen“ – ein zentraler Punkt. Zimmerers Forschungsstelle setzt „Post-“ konsequent in Klammern, weil sie den Kolonialismus entsprechend nicht als historisches Phänomen versteht, sondern als Phänomen, das auch das Heute prägt. Fridays For Future, Migration, Coronakrise, all das ist über den Kolonialismus miteinander verknüpft.

„Das beherrschende Signum unserer Zeit ist die Globalisierung“, sagt Zimmerer. „Über die Globalisierung wurde zu lange als Phänomen der vergangenen 20, 30 Jahre beschrieben. Man müsste aber davon sprechen, dass wir seit dem 15. Jahrhundert eine Globalisierung haben und jetzt mitten im Übergang von der kolonialen zur postkolonialen Globalisierung stehen.“

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Wichtig ist dabei, dass dieses Gespräch nicht ausschließlich unter Europäern stattfindet: Wie Plankensteiner und wie viele Theater arbeitet auch Zimmerer mit Teams, die mit den Nachfahren der einst Kolonisierten zusammenarbeiten. Am Projekt zur kolonialen Vergangenheit in Benin sind zwei Hamburger und ein nigerianischer Doktorand beteiligt. Namibische Künstler arbeiteten vor eineinhalb Jahren an der Ausstellung „Ovizire – Somgu“ am MARKK mit.

„Hereroland“ rief Kritik hervor

Auch die Theaterinszenierung „Hereroland“ im Rahmen der Lessingtage im Januar war eine Kooperation des Hamburger Thalia Theaters mit dem namibischen Nationaltheater Windhoek, nicht nur auf Schauspielerebene, sondern auch bei der Regie, die sich der Deutsche Gernot Grünewald mit seinem namibischen Kollegen David Ndjavera geteilt hatte.

„Hereroland“ allerdings rief Kritik hervor, insbesondere, weil der Einfluss des namibischen Teams manchmal in einen unguten Exotismus zu lappen schien. Zimmerer widerspricht: „Wenn man es ernst meint mit Kooperation und Abgeben von Deutungshoheit, muss man in Kauf nehmen, dass Teile der Inszenierung dem eigenen Kunstverständnis zuwiderlaufen.“ Die internationalen Standards der Theaterkritik seien häufig die Standards des globalen Nordens – diese Standards zu hinterfragen, sei im Grunde angewandte Kolonialismuskritik.

Ähnlich argumentiert auch Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard: „Lange Zeit war es so: Künstlerinnen und Künstler aus afrikanischen Ländern, die in Europa erfolgreich waren, gingen auf europäische Schulen und haben dort das gelernt, was Europa möchte. Sie haben versucht, den europäischen Markt in der Kunst zu bedienen, weg von ihren eigenen künstlerischen Traditionen, hin zur Konzeptkunst.“ Gleichzeitig den Exotismus zurückzuweisen und dabei die eigenen ästhetischen Prämissen als kolonial geprägt zu erkennen, das ist ein Eiertanz. Aber einer, der die Beschäftigung mit Kolonialismus extrem spannend macht.

„Unser Thema ist das koloniale Erbe, zu dem ein beträchtlicher Teil unserer Sammlung gehört"

Seit einer Dekade setzt sich Kampnagel dieser Spannung aus: 2010 brachte der verstorbene Christoph Schlingensief seine letzte, von Reisen nach Burkina Faso beeinflusste Arbeit „Remdoogo – Via Intolleranza II“ hier zur Deutschland-Premiere, seither sind Künstler wie Franck Edmond Yao und Hajusom, aber auch Monika Gintersdorfer, die intensiv mit Künstlern aus der Elfenbeinküste arbeitet, immer wieder am Haus zu sehen.

Direkter als mit diesen künstlerischen Auseinandersetzung greifen nun die Nachwirkungen des Kolonialismus in die Arbeit von Barbara Plankensteiner ein, der Leiterin des MARKK – Museum am Rothenbaum. „Unser Thema ist das koloniale Erbe, zu dem ein beträchtlicher Teil unserer Sammlung gehört: Objekte, die in der Kolonialzeit erworben wurden, unter verschiedenen Umständen.“

In diesem „unter verschiedenen Umständen“ deutet sich schon an, dass Museumsarbeit sich nicht ausschließlich auf die Forschung über den Kolonialismus konzentrieren kann: Ein Museum wie das MARKK ist selbst Teil des kolonialen Denkens. Plankensteiner hat für vorerst ein Jahr eine Stelle geschaffen, um die eigenen Bestände zu überprüfen, insbesondere ihre Westafrika-Sammlung, bei der sie den Verdacht hat, dass viele Objekte unrechtmäßig in Hamburg gelandet sind – als Hafenstadt war man hier besonders versucht, gestohlene Kulturgüter aus den Kolonien dem eigenen Bestand einzuverleiben.

Wichtig ist aber nicht nur, solche Spätfolgen des Kolonialismus zu erkennen, wichtig ist es auch, zu sehen, wo koloniales Denken in unserem Alltag weiterlebt. Beispiele wären ein exotisierender Blick auf fremde Länder oder Ignoranz gegenüber der eigenen historischen Verantwortung. Die Namensänderung des Museum für Völkerkunde in MARKK sei „ein wichtiges Signal nach außen“ gewesen, sagt Museumsleiterin Plankensteiner.

„Es geht darum, auch denjenigen eine Sprache zu geben, über die bisher nur gesprochen wurde.“

„Tatsächlich die Strukturen zu ändern, statt mit bloß plakativen Entscheidungen zu verstecken, dass strukturell alles beim Alten bleibt“ will Kultursenator Carsten Brosda. 2014 war Hamburg das erste Bundesland, das ein postkoloniales Erinnerungskonzept ausarbeitete. Auch hier ist das Schlüsselwort „gemeinsam“: „Es geht darum, auch denjenigen eine Sprache zu geben, über die bisher nur gesprochen wurde.“

Seither hat die Stadt einen Beirat aus mehrheitlich nichtweißen Mitgliedern eingerichtet, der dabei hilft, das konkrete Konzept zu schreiben, zudem wurde Professor Zimmerers Forschungsstelle geschaffen. „Das Ziel ist eine veränderte Praxis“, meint Brosda. „Und diese Praxis setzt voraus, dass wir uns vorher mit den verschiedenen Anspruchsgruppen in diesem Prozess auseinandersetzen müssen.“

Die Stadt hat dabei immer noch einen Woermannsweg. Aber auf lange Sicht schafft postkoloniales Denken ein Bewusstsein dafür, dass hinter diesem Straßennamen ein Verbrechen steht.