Hamburg. Der finnische Dirigent präsentierte Mahlers Neunte mit dem Londoner Philharmonia Orchestra im Großen Saal in Perfektion.

Abschied oder Aufbruch, vergehen oder vorangehen? Auf diese existenziellen Fragen läuft es letztlich immer hinaus, wenn ein Dirigent sich an Mahlers Neunte wagt, dorthin also, wo die Luft lebensbedrohlich dünn wird. Die letzte reguläre Sinfonie, die Mahler vollendete, eines jener atemraubenden Spätwerke, die am Ende ersterbend in die Transzendenz verglühen.

Man kann diese vier furchterregend aufrichtigen Sätze, in denen sich Mahlers spätromantisch geprägte Privatphilosophie bündelt und ins Herz einbrennt, sentimental verstehen, als Testament, als Kapitulation eines Einzelnen vor der Übermacht des Schicksals womöglich. Oder als Aufbruch in die Musik der Moderne, als vertontes Lebenszeichen, trotz alledem, trotz der tiefen Abstürze, der unbeantworteten Fragen, der verzweifelten Sinnsuche-Episoden, dem Verlust von Sicherheiten. Der Welt-Schmerz geht deswegen nicht in Erleichterung über, aber er hat eine andere, erträglichere Qualität.

Dritter Auftritt von Esa-Pekka Salonen im Großen Saal der Elbphilharmonie

Und Esa-Pekka Salonen, das wurde bei seinem Elbphilharmonie-Gastspiel vom ersten Einsatz an offenkundig, ist nicht für den Zusammen-, sondern für den Aufbruch. Dabei mag eine wichtige Rolle spielen, dass er – wie der ähnlich unverblümt erhellende Mahler-Interpret Pierre Boulez – ebenfalls auch Komponist ist. Er weiß um die Strukturen, er sieht die kleinen Nähte im großen Ganzen.

Es war der dritte Auftritt für Salonen im Großen Saal der Elbphilharmonie und der zweite mit „seinem“ Philharmonia, nach einem beeindruckenden Haus-Debüt mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester, und mit jedem Abend erhöhte sich das Ausmaß seiner Sensibilität für den speziellen, fordernden Raum-Klang.

Perfektion ohne Einschübe trübender Eitelkeiten

Damals präsentierten die Londoner vor allem Sibelius, ein Heimspiel also für den Finnen, jetzt einzig und allein Mahler. Beide Male: Perfektion, ganz ohne Einschübe von trübenden Eitelkeiten. Stehende Ovationen am Ende, für einen klugen Dirigenten, der die Möglichkeiten dieses Saals und seiner Akustik nicht zuletzt deswegen so sicher intus hat, weil er während seiner Zeit in Los Angeles, als Gründungsmaestro der Walt Disney Concert Hall, ebenfalls mit einer Toyota-Akustik deren Grenzen austesten konnte.

Dass Salonen dieses Orchester als Nachfolger Christoph von Dohnanyis seit 2008 leitet, hört man nicht nur, man sieht es auch: Größeres Nachjustieren bei der Balance zwischen den Instrumentengruppen ist längst nicht mehr notwendig, das alles funktioniert enorm geschmeidig und selbstverständlich, wie auf Autopilot. Entschiedene Gesten, großartige Resultate.

Dissonanzen und Reibungsflächen als harte Gegensätze offenbart

Vor allem anderen, vor der emotionalen Eindringlichkeit, ging es Salonen bei diesem Werk um Klarheit. Keine Gefühlsduseleien, dafür Detailversessenheit. Das beginnt mit dem Durchdeklinieren der vielen Motivsplitter – erst die Streicher, dann die Harfen, dann schon wieder eine nächste Idee, die kommt und geht - im ersten Satz, die Salonen wie die Einzelteile einer komplexen Maschine ausbreitet, behutsam, wie eine klinisch reine Laboranordnung.

Was kann man daraus machen? Was verhält sich wie mit wem? Wo und wie endet das alles? Wie Zellforschung wirkte diese Begutachtung, veredelt durch die großartige Durchhörbarkeit, die Salonens Orchester geradezu lässig lieferte. Nichts verschlierte, nichts vernebelte. Dissonanzen und Reibungsflächen wurden nicht beschönigt, sondern als die harten Gegensätze offenbart, die sie nun mal sind.

Salonen ließ das Drama in die Stille ausklingen

Im zweiten Satz, dem fast schon satanisch verwirbelten Ländler, blieb Salonen weiter streng auf seiner Baumeister-Linie: brachiales Poltern neben galligem Sarkasmus, keine Spur von Erholung oder Durchatmen. Die Rondo-Burleske verschärfte diese Konflikte sogar, Salonen zog das Tempo weiter an, erhöhte die Dringlichkeit. Aber dennoch blieben die motivischen Entwicklungen präsent und trennscharf, mit dem wunderbaren Trompeten-Solo, einem Motiv-Vorgriff auf das Finale, als kleine Insel der Seligen.

Im Adagio dann wurde es ein letztes Mal ernst. Als Troststifter wollte sich Salonen jedenfalls nicht aus dieser Musik verabschieden. Die Streicher intensivierten den Druck, bis an den Rand des Machbaren, mit einem Ton, der erschütternd schön war, weil er sich nicht dem Ende beugen wollte. Salonen ließ dieses Drama in die Stille ausklingen, es wurde nicht mehr gespielt, nur noch mit Tönen geflüstert, bis in die letzten davonwehenden Melodie-Ahnungen, als Vorahnung einer sekundenlangen Stille, die 2100 Menschen davon berichtete, was wichtig ist im Leben.

Und Mahlers Neunte, die bleibt ein Lackmustest für den Großen Saal: Im Dezember wird Teodor Currentzis sie mit dem SWR Symphonieorchester garantiert in sehr andere Extreme treiben. Im Februar 2020 folgt das Concertgebouw mit Myung-Whun Chung. Im März 2020 gibt Michael Tilson Thomas, den Salonen auf dem Chefposten in San Francisco ablösen wird, sein Elbphilharmonie-Debüt. Und im April folgt Alan Gilbert mit seinem NDR-Orchester.

CDs: Mahler Sinfonie Nr. 9. Philharmonia Orchestra (Signum, ca. 15 Euro) / Salonen „Cello Concerto”. Yo-Yo Ma, Los Angeles Philharmonic (Sony Classical, ca. 16 Euro)