Hamburg. NDR Elbphilharmonie Orchester bot unter der Leitung von Alan Gilbert Kompositionen von Beethoven und Widmann. Nicht alles gelang.

Die Fingerkuppe sitzt auf der Saite. Aber sie bleibt nicht statisch, sondern rollt vor und zurück. Ab einer gewissen Geschwindigkeit nimmt das Ohr diese Bewegung nicht als Schwankung der Tonhöhe wahr, sondern als Belebung des Tons, als Vibrato. Es gehört untrennbar zum individuellen Ton eines Geigers, so jedenfalls die landläufige Vorstellung. Der Komponist Enno Poppe stellt sie infrage. Für sein Violinkonzert „Schnur“, das die Geigerin Carolin Widmann, das NDR Elbphilharmonie Orchester und sein Chefdirigent Alan Gilbert wenige Tage nach der Uraufführung in der Elbphilharmonie vorgestellt haben, hat der Komponist das Vibrato gleichsam in seine Bestandteile zerlegt und akribisch bestimmt, wie schnell, wie lang und in welcher Amplitude die Interpretin vibrieren soll.

Das Stück verweigert sich einer erzählenden Struktur und der guten alten Tonalität sowieso. Emsig entrollt Widmann unzählige Mini-Motive, die Poppe auf seine „Schnur“ gezogen hat, und das Orchester tut es ihr nach. So wälzt er sich dahin, der Motiv-Strom. Gelegentlich geht die Solistin im Tutti unter, was beabsichtigt sein dürfte. Und das Publikum steigt im Laufe des Stücks spürbar aus.

Widmann dreht in „Con brio“ Stilelemente Beethovens durch den Mixer

Apropos Vibrato: Bei der einleitenden „Egmont“-Ouvertüre von Beethoven hat das Orchester von der Originalklang-Prägung durch Gilberts Vorgänger Hengelbrock nur noch wenig hören lassen. Weil die Streicher unterschiedlich und zum Teil kräftig vibrierten, klangen die Akkordschläge zu Beginn recht klebrig. Dafür gaben Gilbert und die Musiker am Ende des Stücks dem Beethovenschen Freiheitspathos einen Raum, der an Übermut grenzte.

Geistreich und amüsant die zweite Ouvertüre des Abends: Jörg Widmann dreht in „Con brio“ aus dem Jahre 2008 Stilelemente Beethovens durch den Mixer und macht etwas Eigenes daraus, Kantilenen mit Walzerschwung eingeschlossen. Der Pauker zeigt sich als sehr variabel, indem er die Schlägel umdreht und statt auf den Fellen auf dem Gestell oder dem Kesselrand spielt. Großer Jubel.

Ach, überhaupt der Pauker. Wer wissen will, wie Beethoven seine Siebte gemeint hat, der braucht Stephan Cürlis nur zuzusehen, wie er – übrigens ohne Noten – seinen Part zur Choreografie adelt, selbst wenn er gerade nicht zu spielen hat. Solcher Hingabe und Konzentration kann man sich kaum entziehen. Ansonsten klingt diese Siebte, wie Gilbert sich in Hamburg eingeführt hat: freundlich, klangschön, gründlich gearbeitet. Nur wie eine Frage auf Leben und Tod klingt sie nicht. Und das ist bei Beethoven dann doch ein klein wenig schade.