US-Saxofonist nahm 1964 den Soundtrack für einen kanadischen Spielfilm auf. Zu finden auf dem Album „Blue World“, das jetzt erscheint.

Im Jazz ist es ja so: Alle naselang taucht neues, bislang unveröffentlichtes Material auf, das dann mit einigem Brimborium auf den Markt geworfen wird. Von Bill Evans bis Sun Ra, von Stan Getz bis Art Blakey: irgendwas ist immer. Doch mit zunehmendem Veröffentlichungstempo steigt auch die Indifferenz. Irgendwann gibt es für das nächste „sensationelle New Yorker Clubkonzert aus dem Sommer 1961“ nur noch ein müdes Achselzucken. Da herauszustechen, das gelingt sehr wenigen, zuletzt Miles Davis mit dem posthum fertiggestellten, aber leider eher zweitrangigen „Rubberband“. Und natürlich John Coltrane, dessen lost album „Both Directions At Once“ vor gut einem Jahr geradezu für Hysterie sorgte.

In seinem Fall aus Gründen, denn bei Coltrane gibt es grundsätzlich keinen Ausschuss, nichts Irrelevantes – buchstäblich jeder Ton ist aufgeladen mit Spiritualität, jede Phrase der Blick in eine andere Welt. Das gilt für die Anfangstage auf dem Prestige Label ebenso wie für die späten Freejazz-Eruptionen auf Impulse. Entsprechend groß ist die fiebrige Vorfreude, wenn jetzt „Blue World“ in den Läden steht. Ein Album mit überraschender Geschichte, ein Filmsoundtrack.

Der kanadische Regisseur Gilles Groulx (1931-1994) war großer Coltrane-Fan und hatte nach einem Konzert des Coltrane-Quartetts Bassist Jimmy Garrison kennengelernt. Über ihn stellte er 1964 den Kontakt zu Coltrane her und bat ihn, die Musik für seinen Debütfilm „Le chat dans le sac“, eine Beziehungsgeschichte im Stil der Nouvelle vague, einzuspielen.

Coltrane sagte tatsächlich zu und nahm mit Schlagzeuger Elvin Jones, Pianist McCoy Tyner sowie Garrison bereits bekannte Stücke neu auf, darunter Klassiker wie „Traneing In“ und „Naima“. Im Studio von Produzent Rudy Van Gelder traf sich das Quartett am 24. Juni; der damals geschlossene Vertrag zeigt, dass Coltrane als Leader 137,16 US-Dollar bekam, seine Kollegen jeweils 68,58 Dollar.

Groulx nahm die Bänder gleich am nächsten Tag mit nach Kanada, im Zuge größerer Archiv-Durchforstungen sind sie nun wieder aufgetaucht – ein Fest für Coltrane-Süchtige.

Gleich drei Versionen gibt es von „Village Blues“, die alle deutlich kürzer ausfallen als das Original von 1959. Zweimal ist „Naima“ zu hören, hinzu kommen „Like Sonny“, „Traneing In“ und das titelgebende „Blue World“. Sämtlich keine Raritäten, aber eben: in dieser Form bisher ungehörtes Coltrane-Material. Und so dürften diese knapp 37 Minuten weltweit weitaus intensiver diskutiert werden als so manche aktuelle Jazz-Veröffentlichung – auch wenn natürlich nur Experten sämtliche Interpretationsnuancen zu durchdringen ver­mögen.

In jedem Fall nährt „Blue World“ die Hoffnung, dass demnächst weiteres Archivmaterial auftaucht. Im mehr als 800-seitigen Wälzer „The John Coltrane Reference“, der sämtliche Aufnahme-Sessions verzeichnet, sind jedenfalls eine Menge Daten erwähnt, für die es bislang keine Tondokumente gibt. In den Regalen der Coltrane-Sammler ist aber auf jeden Fall noch Platz, es darf also gerne weiter gebuddelt werden.

John Coltrane: „Blue World“ (Impulse!/Universal). Als CD, LP und Download