Hamburg. Generalintendant Lieben-Seutter über die Vorlieben von Veranstaltern und Publikum und über das Beethoven-Jahr ohne Beethoven.

Neulich, in einem Interview mit dem Wirtschaftsmagazin „Brand eins“, erzählte Elbphilharmonie-Chef Christoph Lieben-Seutter, dass sein damaliger Chef am Wiener Konzerthaus ein Tschaikowsky-Verbot für Orchester ausgesprochen hatte und sagte: „Ich bin kurz davor, für die Elbphilharmonie das Gleiche zu tun.“ Provokante, interessante Idee. Denn obwohl der Spielplan-Alltag in Hamburgs neuem Konzerthaus – immer ausverkauft, egal was – noch wenig mit der Routine anderer Säle zu tun hat, steht eine Grundsatz-Frage schon jetzt im Raum: Wie umgehen mit den Klassikern, mit den ewigen Publikumslieblingen und den lohnenden Raritäten?

Hausverbot für die Dauerlutscher von Tschaikowsky – eigentlich eine gute Idee. Warum nicht?

Christoph Lieben-Seutter: Weil es in der Praxis in einem Haus wie unserem nicht wirklich durchführbar ist mit einem dermaßen riesigen Angebot an Orchesterkonzerten. Damals ging es um vielleicht 30 Konzerte, da war das durchhaltbar.

Und wie ging es damals in Wien weiter?

Das blieb so, bis zum Ende von Pereiras Amtszeit. Aber es ging nicht um Tschaikowsky prinzipiell, sondern um dessen ganz große Evergreens. Nur die allzu gängigen Werke waren in Ungnade gefallen, nicht der Komponist an sich.

Schon lustig, aber der Hintergrund ist ja durchaus ernst: Sollte man nicht wirklich das eine oder andere Standardstück lieber lassen, als es wieder und wieder und noch mal wieder zu spielen?

Das Kernangebot der Orchester ist schon sehr reduziert, auf einen Kanon von wenigen Komponisten und deren Hauptwerken.

Das verschärft das Problem ja sogar.

Ja. Das ist etwas, was jedem Musikliebhaber zuwiderläuft. Andererseits ist jeder Veranstalter natürlich darauf aus, seinen Saal zu füllen. Da stoßen zwei ­Interessen aufeinander. Viele Anbieter gehen da gern den Weg des geringsten Widerstands.

Das gilt für alle anderen Konzerthäuser, aber doch nicht für dieses. Sie können in der Elbphilharmonie bedenkenlos total Unbekanntes aufs Programm setzen.

Stimmt, hier gibt es die einmalige Gelegenheit, das Repertoire zu verbreitern. Das passiert ja auch, mit Ives, Eötvös, Benjamin, Kurtág, Varèse ... Aber es ist nicht so, dass man sich einfach Stücke aus dem Werkkatalog wünscht. Das ist eine komplexe Gemengelage. Der Künstler, den man einlädt, muss das auch können und wollen und genug Zeit zum Proben haben, die Orchester ebenso. Es sind viele Interessen abzugleichen, das kann man nicht einfach von oben verordnen.

An Ihrer Tür steht „Generalintendant“. Chef also, Bestimmer.

Dann versuchen Sie mal, bei Herrn Petrenko oder Herrn Rattle anzurufen und ihnen zu sagen: Ich möchte Messiaen von dir, sonst nehme ich dich nicht. So einfach ist das nicht. Das ist immer ein Geben und Nehmen.

Die Adresse Elbphilharmonie hilft beim Umsetzen von Programmen, die sonst womöglich nicht passiert wären?

Ja, natürlich. Die Programme fürs Polen-Festival neulich waren à la carte bei den polnischen Orchestern von uns bestellt. Doch wenn Chicago das nächste Mal kommt, sagen die: Wir haben Bruckner 5 und Mahler 1 im Gepäck, welche wollt ihr haben? Und berühmte Solisten werden gerne langfristig als Zugpferd gebucht, wenn das Programm noch gar nicht fix ist. Deren Repertoiremöglichkeiten sind dann auch noch zu berücksichtigen. Außerdem verantworte ich nur rund ein Drittel der Konzerte direkt. Was die Saalbuchungen durch andere Veranstalter betrifft, kann ich dem NDR Elbphilharmonie Orchester und den Philharmonikern schon laut Vertrag nichts vorschreiben. Anderen zwar schon, aber in der Praxis beschränkt sich der Austausch auf Programme, die in besondere Schwerpunkte und Festivals fallen. Und die andernorts gerne vermiedenen Doubletten finde ich nicht problematisch, im Gegenteil. Diese Saison kann man bei uns die 4. Schostakowitsch in drei verschiedenen Interpretationen erleben. Das ist doch toll.

In Ihren Spielzeiten haben Sie mehrfach Spezial-Themenschwerpunkte installiert. Ist diese Saat des Besonderen inzwischen beim Publikum aufgegangen? Oder ist es fürs Ernten noch zu früh?

Im Großen und Ganzen reagiert das Publikum nur zu geringem Teil auf zusammenhängende Programme, was aber wohl auch daran liegt, dass man nicht so einfach an Karten für weitere Konzerte kommt. Bei Themen wie dem Kaukasus waren erstaunlich viele Kenner im Elbphilharmonie-Publikum. Generell gilt: In diesem Haus sind Neugierde und Bereitschaft, sich bislang Unbekanntes anzuhören, viel größer, als ich es bislang gewohnt war. Das gilt für das Wiener Konzerthaus ebenso wie für die Laeiszhalle. Das Interesse und die Konzentration im Saal sind erstaunlich. Und es muss nicht immer Neue Musik sein. Gerade kürzlich, bei Rameau, war das Publikum drei Stunden lang von französischem Barock geplättet.

Wenn Sie mehr könnten, wie Sie wollten – wen würden Sie öfter bringen als bisher?

Also mit den Programmen der ersten drei Spielzeiten bin ich schon ganz zufrieden. Was meine persönlichen Lieblinge wie Schubert, Janacek oder Berg betrifft, geht noch mehr. Generell ist die 2. Wiener Schule bisher unterrepräsentiert.

„Der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler“, heißt es. Wie halten Sie Ihre Vorlieben des großen Ganzen wegen aus der Programmplanung heraus?

Kaum. Ich bin halt auch unser größter Fan – ein musikbegeisterter Mensch, der gern ein tolles Programm hören möchte. Und ich maße mir an zu behaupten, dass das, was ich für gut halte, auch ziemlich gut ist. Und dass es deswegen auch anderen empfohlen werden kann.

Programme planen ist auch eine Art Kunst. Was wollen Sie, der Intendant, auf lange Sicht damit erreichen?

Diese Kunst sehe ich mehr im Gesamtzusammenhang, nicht nur im dramaturgisch ausgefeilten einzelnen Programm. Ein guter Dramaturg kann sich viel ausdenken, die eigentliche Kunst ist die Verknüpfung des Wünschenswerten mit dem Möglichen, und das im Rahmen einer wirtschaftlichen Betrachtung. Die größte Priorität hat für mich immer die Qualität des einzelnen Abends. Auf lange Sicht will ich den eingangs erwähnten Werkekanon in jede Richtung ausbreiten. Es gibt so viel irre gute Musik, die sich nicht nur zwischen Bach und Mahler abspielt. Das Publikum ist dabei oft weiter als das Musik-Business, als viele Label-Chefs oder Agenten. Die Zuhörer finden so eine Lutosławski-Sinfonie super, die viele Veranstalter für Kassengift halten.

Wie schwer ist es, einem Kartenkunden, der von ganzem Herzen Mozarts „Kleine Nachtmusik“ vermisst, konkret zu erklären, wie viel schönes anderes es noch gibt? Ist das zu bohrende Brett hier in Hamburg mittlerweile dünner?

Wir haben hier zurzeit eine Ausnahmesituation: Wir machen das Programm, das uns Spaß macht, und die Leute kaufen es. Apropos „Kleine Nachtmusik“, die ist nicht verboten, nur eine gute Aufführung ist verdammt schwierig. Das Tolle ist ja, dass gerade diese Klassiker noch überzeugender und spannender sind, wenn sie im Rahmen eines größeren Repertoire-Bogens auftauchen.

„Verführungsstrategie und viel Überzeugungsarbeit“ seien für den Publikumsaufbau notwendig, sagten Sie. Müssen Sie beides hier nicht machen.

Noch nicht. Aber wir sind trotzdem bemüht, unser Angebot verführerisch darzustellen. Das beginnt mit Website, Newsletter und Blogs und geht bis zu den Texten in den Abendprogrammen, die das Publikum abholen sollen. Das läuft jetzt schon, damit es greift, wenn wir einmal nicht mehr ausverkauft sind.

Planen Sie eine Publikumsbefragung in Richtung Wunschkonzert – oder ist das eine Büchse der Pandora, die Sie lieber verschlossen lassen?

Wir planen eher Befragungen zum ­Service, sicher nicht zum Konzert­programm. Es ist nicht unsere Aufgabe zu bringen, was das Publikum will, ­sondern ein möglichst spannendes ­Programm zu machen und das Publikum dazu zu verführen, sich überraschen zu lassen. Die tollsten Konzerte meines Lebens waren fast immer jene, bei denen ich Sachen gehört habe, mit denen ich überhaupt nicht gerechnet hatte oder die ich vorher nicht kannte. Und diese Neugierde und Über­raschungslust fühle ich in der Elbphilharmonie durchaus.

Das Geunke über die Klassik-Krise ist also nur pessimistische Kaffeesatzleserei? Die Besucherzahlen gehen ja nachweislich nach oben, und das steil.

Da wird gerne ein plakatives Untergangsszenario aufgemalt. Es gibt viele gute Beispiele, dass es auch anders gehen kann, und die Elbphilharmonie ist weit vorn dabei. Da gibt es ein Riesenpotenzial.

Mal eine ketzerische Frage, wenn es schon keine Komponisten-Hausverbote gibt: Warum eigentlich keine Raritäten-Quote in den Programmen? Eine „Wundertüte“-Reihe als Gegengewicht zu Beethovens „Pastorale“.

Als einzelne Reihe ist das gut vorstellbar, wir haben ja bereits die „Blind Date“-Konzerte. Es werden auch neue Festivalformate auftauchen, bei denen es nur um unbekannte Musik geht. Aber übers ganze Programm macht das keinen Sinn und würde uns zu sehr einschränken.

Haben Sie auf Ihrem Rechner eine Liste mit Wunschstücken, die Sie seit Ihrem Amtsantritt 2007 machen möchten, und welcher Herzenswunsch steht da noch drauf?

Klar. Aber 70, 80 Prozent haben wir mittlerweile schon abgearbeitet. Moment ... (klappt den Laptop auf)... Nonos „Prometeo“ beispielsweise, Ravels „L’enfant et les sortilèges“, die „Deutsche Sinfonie“ von Eisler, die Lukaspassion von Penderecki ...

2019 ist Clara-Schumann-Jahr. Wollen wir mal wetten, dass das nicht angemessen gewürdigt wird?

Gewonnen! Das ist aber keine Absicht. Gerade was Komponistinnen betrifft, gibt es noch viel zu tun. Wir sind aber bei der Programmierung auch nicht auf Jubiläen fokussiert.

2020 ist Beethoven-Jahr. Was wollen Sie dafür machen? Und was dagegen?

Meine geniale Strategie, gar keinen Beethoven zu spielen, konnte ich nicht durchhalten. Das liegt auch daran, dass die Programme im Haus von vielen Veranstaltern verantwortet werden. In den eigenen Konzerten haben wir tatsächlich nur wenige, außergewöhnlichere Projekte. Doch da der internationale Klassik-Betrieb fast ausschließlich Beethoven anbietet, wird dann doch einiges an Beethoven zu hören sein.

Sie haben auch einen Kulturauftrag. Heißt das mittelfristig eher nicht mehr: Mut zur lohnenden Programmlücke, sondern: Hauptsache keine roten Zahlen?

Die grundsätzliche Ansage ist eher: Bitte komm mit dem Geld aus, das wir dir ­zusagen.

Je normaler der Andrang auf die Karten, desto konventioneller das Spielzeitprogramm – das wäre der Worst Case, den Sie vermeiden möchten?

Den ich hoffe vermeiden zu können. Wir nutzen diese Zeit jetzt, um die ­Genetik der Elbphilharmonie so zu festigen, dass man hier immer etwas Besonderes erwartet. Und man sich nicht eines Tages auf Beethoven oder Tschaikowsky zurückziehen muss, nur damit die Hütte voll wird.