Hamburg . Schlicht, aber populär: Musik, die als Neoklassik vermarktet wird, klingt oft, wie Paulo Coelho schreibt. Eine Einführung ins Phänomen.
Käme aus veganen Wadenwickeln mit laktosebefreitem Chai-Latte-Aroma auch noch Klaviermusik, genau so könnte sie klingen: wie eine sanft wärmende, mollige Massage für gegenwartsgeschundene Großstädter-Seelen, vertanzt von melancholischen, entschleunigten Melodiezwergen. Eine einlullende Endlosschleife aus Achtsamkeitsübung-Vertonungen. Die Helden dieses Genres, das gern mit dem ebenso verkehrten wie griffigen Etikett „Neoklassik“ versehen wird, sind oft leicht verpeilt wirkende Pianisten oder Elektronik-Frickler mit niedlicher Wuschelfrisur (ein Männerding, das alles, scheinbar). „Die Künstler sitzen hinter einem klassischen Instrument, das war‘s aber auch schon“, meint der Pianist und Komponist Hauschka dazu, wenig begeistert vom Pauschal-Namen dieser Stil-Schublade.
Unter den sehr wenigen Akkorden, die diese Neoklassiker im Zeitlupentempo brechen oder wenigstens biegen, geigt oder brodelt es auch mal verrätselt vor sich hin. Besonders kreativ und erfolgreich in dieser Sparte ist der in Hamburg geborene Nils Frahm. Der vernebelte, aufgeraute Sound solcher Projekte ähnelt den raffiniert inszenierenden Retro-Filtern, mit denen man seine Alltags-Fotos im Smartphone für das Instagram-Leben aufhübschen kann. Unperfekt ist auch da das neue Toll.
Der Markt ist riesig und lukrativ
Gefühlt – und gefühlt ist bei dieser Musikrichtung extrem wichtig – vergeht seit vielen Monaten keine Woche, in der nicht einer dieser Befindlichkeits-Lieferanten ein Konzert in der Elbphilharmonie gibt. Der Markt ist da, nicht nur hier, er ist riesig, also ist er auch riesig lukrativ. Und es ist sehr leicht, sich schnell über seine Mechanismen und Spielregeln lustig zu machen. Dabei bedient dieses beschauliche Pianieren auf der Stelle lediglich menschliche Bedürfnisse, die andernorts noch keinen Halt fanden. Für die klassische Virtuosen mit ihren Gratwanderungen auf Notenbergen zu komplex sind und die reguläre Klassik zu steif, zu alt, zu verschult. Zu gestrig. „Es ist schon okay… Du bist okay...“, flüstert diese Musik ihrem gestressten User tröstend zu. „Lehn Dich zurück, entspann Dich. Hier bei mir passiert Dir nichts.“ Burn-out-Medizin, rezeptfrei durch die Ohren einnehmbar. Diese Musik lässt sich in stundenlangen Playlists konsumieren, weil sie sich so sehr ähnelt. Genau das ist Voraussetzung ihres Erfolgs.
Dass ausgerechnet ein Schüler der Avantgarde-Klassiker Stockhausen und Berio, die nun wirklich nichts zum Schunkeln schrieben, zum Neoklassik-Superstar geworden ist, ist erstaunlich. Der Italiener Ludovico Einaudi füllt seit Jahren große Hallen mit dem, was er tut – das genaue Gegenteil dessen, was er studierte.
Harmlose und übersüße Musik
Mit Musik, die so harmlos ist und derartig übersüß, dass man Diabetiker nur im Beisein eines Arztes zuhören lassen möchte. Beim Streaming-Portal Spotify hat Einaudi mit 1,27 Millionen Followern gut fünfzehnmal so viele wie der Klaviervirtuose Lang Lang. Ohne eine ordentliche Einaudi-Dosis darf offenbar kein Werbespot mit glücklichen Menschen im Weichzeichner-Gegenlicht mehr auskommen. Und auch der holländische Freizeit-Pianist Joep Beving beschallte Werbung, bevor er den versonnenen Eigenbrötler in sich entdeckte. Seine Stückchen, die er in seiner Küche auf Omas Klavier ertastet hatte, stellte er ins Netz, dort wurden sie schnell millionenfach gehört. „Was ich mache, nenne ich Musik für komplexe Emotionen.“ Beving trat inzwischen im Amsterdamer Concertgebouw auf (und auch in der Elbphilharmonie) und erhielt einen Exklusivvertrag mit der Deutschen Grammophon, dem berühmtesten Klassik-Label für die berühmtesten klassischen Pianistinnen und Pianisten. Verkehrte Welt. Jahrzehntelang verliefen Karrierewege in die genau entgegengesetzte Richtung.
Es kommt ja, leider, alles wieder, früher oder später, erst recht in der Kultur. Seit etwa 200 Jahren hat noch jede Generation die schlechte, oder zumindest: schlichte Musik erhalten, die zu ihr und ihrem Lebensmodell passt. So war die Salonmusik in den bürgerlichen Wohnstuben des 19. Jahrhunderts Prestige-Deko für gesellschaftliche Aufsteiger; Musik, die auch Minderbegabte mit etwas Fleiß in die Amateur-Finger bekommen konnten, mit Hits wie dem „Gebet einer Jungfrau“, das aus lauter Tonsatz-Bauklötzchen bestand. Sollte eine Tochter aus gutem Hause einen Mann finden, konnte sie mit dem Vortrag dieser Stücke, die sich dekorativ über die gesamte Klaviatur ergossen und damit schwerer aussahen, als sie waren, als brauchbare Partie qualifizieren.
Viele Neoklassiker komponieren Sountracks fürs Kino
Im frühen 20. Jahrhundert entwickelten sich Klangtapeten-Phänomene wie die parfümierten Nichtigkeiten von Erik Satie; er war ein schrullig-genialer Sonderling in Paris, der seine Notenflächen als unaufdringliche Inneneinrichtung verstanden wissen wollte. In den 1980ern hieß Neoklassik noch New Age und kam auf selbstgestrickten Wollsocken daher, einer ihrer prominentesten Künstler war der Pianist George Winston, der auf dem „Windham Hill“-Label mehrere Alben mit besinnlichem Balladen-Material füllte. Während ECM-Künstler sich hinter schwarzweißen Cover-Fotografien in strenger Einsiedelei gefielen und verkapselten, klang Winstons Musik, wie warme Milch mit einer Schaufel Honig schmeckt. Kurz vor George Winston hatte der Franzose Richard Clayderman mit „Ballade pour Adeline“ Kitschgeschichte geschrieben. Vom legendären Hamburger Jazzmusiker und -publizisten Michael Naura stammt die gemeinste aller Schnell-Urteile: „Es gibt Frisöre und es gibt Pianisten. Clayderman ist ein Pianör.“ Das elektronische Ambient-Geraune von Brian Eno war die intellektuell verkopfte Spielart dieser Meditationen, die brillante Könnerschaft des frühen Keith Jarrett spielte in einer komplett anderen Liga.
Da diese Musik so sehr auf Atmosphäre und Stimmung abzielt, verwundert auch nicht, dass viele Neoklassiker durch Soundtracks fürs Kino bekannt wurden. Der Isländer Jóhann Jóhannsson, im Februar tragisch verstorben, war ein riesiges Talent; Musik des Deutsch-Briten Max Richter – auch er ein von der reinen Lehre abgefallener Berio-Schüler – fand in Martin Scorseses „Shutter Island“ ebenso Verwendung wie in den Schlaumeier-Serien „The Leftovers“ und „Black Mirror“ und kürzlich in Florian Henckel von Donnersmarcks „Werk ohne Autor“.
Bachs Cello-Suiten verfremdet und verwässert
Mittlerweile ist der nächste Schritt in der Vermarktung dieses Phänomens erreicht: die Neoklassifizierung von Klassik. Der junge Pianist Víkingur Ólafsson, der durch seinen romantisierenden Umgang mit der kühl konstruierten Minimal Music von Philipp Glass bekannt wurde, hat kürzlich neben einem Album mit Original-Bach auch ein weiteres mit Remix-Versionen veröffentlicht. Wem Yo-Yo Mas grandiose, dritte Gesamtaufnahme von Bachs Cello-Suiten zu barock ist, der kann jetzt auf die „Recomposed“-Version des Cellisten Peter Gregson umsteigen. Von ihm wurde das Ausgangsmaterial, dem in den letzten 300 Jahren noch niemand Optimierungsbedarf nachweisen konnte, verfremdet und letztlich: verwässert.
Konzert-Termine und Musikbeispiel
Nächste Konzerte: 21.12., 20 Uhr: Martin Herzberg, Laeiszhalle, Kl. Saal. 8.1., 19.30 Uhr: „New Sound of Classical“: Olga Scheps, Alexis Ffrench, Tokio Myers. Elbphilharmonie, Kleiner Saal. 9.1, 19.30 Uhr: Gabriel Prokofiev. Elbphilharmonie, Kleiner Saal. Eventuell Restkarten an der Abendkasse.
Aktuelle oder typische CDs: Nils Frahm „All Melody“ / Ludovico Einaudi „Elements“ / George Winston „December“ / Max Richter „The Blue Notebooks“ / Vikingur Olafsson „Bach Reworks“ / „Bach: The Cello Suites – Recomposed by Peter Gregson“ / Joep Beving „Conatus“ / Jean-Yves Thibaudet „Erik Satie – The Complete Solo Piano Music“ / Keith Jarrett „La Fenice (Live at Teatro La Fenice, Venice / 2006“ / Francesco Tristano „Piano Circle Songs“ / Jóhann Jóhannsson „Englabörn & Variations“.