Hamburg. Sturm und Drang mit 91 Jahren: Dirigent Herbert Blomstedt zeigt, dass Standardwerke oft riskanter sind als Raritäten.

Mehrere Vokabeln wären für Auftritte wie diesen möglich: einordnen, erden, hinterfragen, würdigen, auch ein auf intellektueller Augenhöhe demütiges „dienen“ wäre glatt drin. Für das, womit Herbert Blomstedt – mittlerweile extrem rüstige 91 Jahre – ins fordernde Rampenlicht eines Konzertsaals tritt, ist die Arbeitsplatzumschreibung „Konzert“ lediglich ein Teil der Erklärung. Aber etwas Rest-Mysterium sollte ja auch gern bleiben, sonst wäre es zu einfach. Was es nicht ist.

Von Zeit zu Zeit kommt der Schwede zu seinem ehemaligen Hamburger Orchester zurück, das ihn offenkundig umso lieber hat, je länger dieses Intermezzo her ist, das jäh endete. Diese Besuchstermine und die dazugehörigen Programme haben seitdem immer etwas von Pflicht-Verabredung mit einem sehr verbindlichen Kernrepertoire-TÜV-Gutachter, sie haben aber nie den drohenden, oberlehrerhaften Unterton von „Hefte raus! Klassenarbeit!“. Übers Strebern und Erbsenzählen ist dieser Dirigent der alten Schule ohnehin längst hinweg. Genussoptimierung als interpretatorischer Selbstzweck ist nicht sein erstes Ziel, Genauigkeit, Geradlinigkeit und Dienstleistung am Stück sind ihm viel wichtiger. Ansonsten gilt weiterhin sein sympathisches Motto: Eitelkeit stinkt.

Standardwerke oft riskanter als Rarität

Soviel also zur Theorie eines Abends mit Herbert Blomstedt. Das erste seiner drei NDR-Abo-Konzerte im Großen Saal der Elbphilharmonie ließ viel davon aufleuchten, einiges aber auch noch vermissen, trotz alledem. Und womöglich auch nur, weil es erst das erste der drei Konzerte war. Und weil Standardwerke wie das Es-Dur-Klavierkonzert von Beethoven und die Zweite Brahms oft riskanter sind als diese oder jene Rarität.

Grundsätzlich interessant war allerdings bereits die vom NDR gebaute Kombination von Gast-Dirigent und Gast-Virtuose. Denn Emanuel Ax ist keiner dieser Volldampf-Virtuosen, die mit krachender Eindeutigkeit alles wegspielen, was sich ihnen in den Weg zum Schlussapplaus stellt. Im Gegenteil: Er mag und praktiziert gereiften Benimm an der Tastatur. Und, was in einem Saal wie dem der Elbphilharmonie durchaus zielführend ist, er kann und mag sich elegant und schnell auf besondere Gegebenheiten einstellen.

Ist die Akustik so hochauflösend wie hier, spielt er seinen Part in Beethovens 5. Klavierkonzert entsprechend trennscharf; dosiert die Legato-Momente fein und zurückhaltend und dennoch mit großem, runden, klar konturierten Ton. Damit war Ax auf einer Linie mit Blomstedt, denn auch der legte allergrößten Wert auf unschwelgerische, straff federnde Transparenz und Selbstdisziplin. Also: schnörkelarmer Orchesterklang, luftiges Darstellen anstelle von Beethoven-Ballern.

Blomstedt in als "supporting conductor"

Und nachdem Ax in der Einleitung zum Kopfsatz bestechend demonstrierte, dass in keinem anderen Klavierkonzert der hineinkomponierte Vorhang vor dem musikalischen Geschehen so schön und so majestätisch aufgehen kann, konzentrierte sich Blomstedt neben dem Flügel auf die Glanzrolle des „supporting conductor“. Haltung bewahren und tunlichst nichts vernebeln. Nicht immer war ganz klar, was einige seiner Dirigier-Gesten konkret bedeuten oder verhindern sollten, als Präsenzmaestro mit Charisma-Bonus hat man aber ein Recht auf seine Eigenarten. Um Ax’ Wohlbefinden musste sich Blomstedt dabei nicht kümmern, der hatte viel Freude daran, eigenverantwortlich die Feinheiten auszukosten. Das Adagio war eine tiefgründige Gelassenheitsstudie, das Schluss-Rondo ein unangestrengtes Ringen des Virtuosen mit der Herausforderung, nicht ins Eilen zu verfallen, obwohl man es könnte.

Bei Brahms’ Zweiter war die Welt anschließend nicht so ganz in Ordnung. Woran das lag? Schwer zu sagen. Nuancen waren schuld, höchstens, dass sich das wohlige Wiederhören-Gefühl anfangs nicht einstellen mochte. Im Kopfsatz legte Blomstedt die gefühlte Betonung bei seiner Gestaltung stärker auf die Tempoangabe Allegro und weniger auf das abbremsende Anhängsel „non troppo“. Er war also im Erinnerungsvergleich der Interpretationen näher am Sturm und Drang eines Leonard Bernstein als am versöhnlich ausklingenden Spätwerk-Blickwinkel eines Günter Wand.

Die Gestaltungsphilosophie war hier weit von Gelassenheit entfernt, gerade in den zügigen Passagen des dritten und vierten Satzes wirkte Blomstedts Umgang mit dieser Sinfonie forsch und fordernd. Doch dieser Schwung lief hin und wieder ins Ungenaue, wenn in den Bläsersätzen im dritten Satz die kompositorischen Nähte durchschienen, statt, wie es sein sollte, in der Klangfarbenmischung aufzugehen. Wenn es bei den Streichern in den Themenarkaden des Schlusssatzes nur mit gedimmter Pracht leuchtete. Wenn Übergänge wie durchbuchstabiert klangen und nicht gespielt wurden, als wäre diese Musik ein großer freundlicher Fluss, dem man sich ohne einen Moment des Zögerns anvertrauen könnte. So blieb am Ende der Eindruck, eine Menge gelernt zu haben, aber dennoch mindestens einen Abend zu früh in die Elbphilharmonie gegangen zu sein.

Das NDR-Konzert wird am Sonntag, 16.12., um 18 Uhr wiederholt. Restkarten evtl. an der Abendkasse.