Hamburg. Veranstalter Karsten Jahnke zeigt sich entsetzt über die Publikumsflucht und bezeichnet den Abend als “niederschmetternd“.

Es ist ein groteskes Szenario: Während das Sextett des Jazz-Pianisten Vijay Iyer noch mitten im Konzert ist, stehen im Großen Saal der Elbphilharmonie am Mittwochabend immer wieder Besucher auf und gehen. Nicht einzelne, sondern oft Dutzende gleichzeitig, die durch die Sitzreihen zu den Ausgängen drängen. Bald schon sind hinter den Musikern 80 Prozent der Plätze frei, auch in den Seitenblöcken leert es sich mehr und mehr. Nach einer besonders fulminant endenden Nummer, die der Konzertschlusspunkt sein könnte (aber nicht ist), gehen mindestens 100 Besucher.

Ganz offensichtlich Saaltouristen, die nicht wussten, welche Art von Musik sie erwartet, sondern schlicht „1 x Elbphilharmonie“ gebucht hatten. Die ihr Selfie im Saal gemacht, die Verschalung der Wände und den von der Decke hängenden Schalltrichter bestaunt haben und nun vor dem Problem stehen, dass da ja auch noch Musik gespielt wird. Die Busse aus Tübingen und aus dem Rhein-Hunsrück-Kreis, die vor dem Konzerthaus warten, sind schon vor dem tatsächlichen Konzertende gut gefüllt, während sich drei Jazzfans bei einer Zigarette danach darüber entrüsten, was sie gerade erlebt haben. Eine Respektlosigkeit sei das gewesen, sagen sie und wünschen sich, das Konzert hätte in der Fabrik oder in der Laeiszhalle stattgefunden. Tatsächlich wären Saaltouristen, die seit der Eröffnung am 11. Januar 2017 bei fast allen Elbphilharmonie-Konzerte auszumachen sind, dort wohl kaum zu finden.

Es gibt zahllose Busreisen zu Elbphilharmonie-Konzerten

„Auch wenn nicht alle ihren Konzertbesuch am konkreten Programm des Abends ausrichten, ein tolles Konzert wollen sie trotzdem erleben“, hatte Intendant Christoph Lieben-Seutter vor knapp fünf Monaten im Abendblatt-Interview gesagt. „Dass Konzerte durch unerfahrene Besucher beeinträchtigt werden, kommt viel seltener vor, als zurzeit gerne behauptet wird.“ Unterm Strich ist das sicher richtig, gerade bei Konzerten etwa der Philharmoniker oder des NDR Elbphilharmonie Orchesters kommt in der Regel ein kenntnisreiches Publikum, auch die ProArte-Reihe ist weniger betroffen.

Kommentar: Mehr Respekt, bitte!

Was natürlich auch daran liegt, dass Karten für Jazzkonzerte leichter zu bekommen sind. Bei Vijay Iyer, der am Mittwoch im Doppelpack mit der Band Ronin von Pianist Nik Bärtsch auftrat, gab es sogar noch Restkarten an der Abendkasse. Davon abgesehen bringen Busunternehmen in ganz Deutschland, die über Kartenkontingente verfügen, ohnehin jeden in das neue Hamburger Wahrzeichen, der bei ihnen eine entsprechende Reise bucht. Wer im Internet nach „ Busreise Elbphilharmonie“ sucht, hat jedenfalls eine große Auswahl. So fährt etwa ein Anbieter aus der Nähe von Dresden potenzielle Elbphilharmonie-Besucher am 23. März 2019 zum Auftritt von Henrik Schwarz mit dem Alma Quartet. Ein eher experimentelles Konzert, über das es auf der Website der Elbphilharmonie heißt, Schwarz de- und rekonstruiere dabei Motive aus 70 Streichquartetten elektronisch. Wie lange es da wohl dauert, bis sich die Reihen leeren und die Busse füllen?

Veranstalter zeigt sich entsetzt über die Publikumsflucht

Vijay Iyer, dessen zusätzlich zweimal von Soundproblemen geplagte Band ob der Umstände keine Zugabe mehr spielte, wurde hinterher von Veranstalter Karsten Jahnke getröstet, der sich dem Abendblatt gegenüber „entsetzt“ über die massenhafte Publikumsflucht zeigte. „Das waren keine Jazzfans!“ Und: „Lieber hätte ich das Konzert nur zur Hälfte ausverkauft, als so etwas zu erleben.“ Allerdings lasse der Druck auf Elbphilharmonie-Tickets ja langsam nach und er hoffe, dass sich solche Szenen nicht wiederholen. Oder das nächste Mal doch wieder in die Laeiszhalle? „Hinterher ist man immer schlauer“, sagt Jahnke über einen Abend, den er mit einem Wort zusammenfasst: „Niederschmetternd.“

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