Hamburg. Was passiert, wenn man Ecken und Kanten lieber mag als klassische Rundungen? Der junge Pianist Lucas Debargue testete es aus.
In jeder steil aufbrausenden Virtuosen-Kariere gibt es eine Phase, da muss man viel spielen, Repertoire ausbauen, Erfahrungen sammeln; je mehr, je unterschiedlicher, desto besser. Dass dieses Berufsschicksal nun den jungen französischen Pianisten Lucas Debargue mit der traditionsgetränkten Russischen Nationalphilharmonie und einem so positiv abgebrühten Old-School-Kapellmeister wie Vladimir Spivakov verkuppelte, bot eine höchst lebendige Reibungsfläche. Und dann stand auch noch Tschaikowskys Erstes Klavierkonzert im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, so ziemlich das schlachtrossigste Schlachtross seiner Generation, ebenso gutmütig parierend wie solide vertraut.
Doch Debargue war offenbar wild entschlossen, die scheinbar längst entschiedene Sache beim Auftritt im Großen Saal der Elbphilharmonie rasant auszureizen und eben nicht den x-ten pianistisch toll austrainierten Musterknaben zu geben. Es begann damit, dass der Flügeldeckel abmontiert war die Klangverschmelzung mit dem Orchester so interessant anders als gewohnt. Debargues Devise, über weite Strecken jedenfalls: keine Atempause, keine dekorative Innerlichkeit, kein manierliches Gefallenwollen.
Jazzige Phrasierungen als Würze
Debargue probierte frohgemut die Richtwert-Regler dieser Mutprobe aus: Was passiert, wenn man Ecken und Kanten lieber mag als klassische Rundungen? Wie flott kann man sich in die Brillanzanforderungen des Kopfsatzes stürzen? Ab welchem Punkt macht es Spaß, im Prestissimo des zweiten Satzes jazzige Phrasierungen als Würze hineinzugarnieren, weil man es kann? Dezent war längst nicht alles, faszinierend fast alles. Es gab nicht wenige Momente, in denen Debargue es fast darauf anzulegen schien, das Tutti abzuhängen, während er auch sich selbst auf die Probe stellte. Die sichere Nummer, das war schnell klar, die interessierte hier nicht; Spivakov & Co. ließen ihn gewähren und mühten sich redlich, nicht aus dem an sich gemeinsamen Takt zu kommen. Achterbahn- statt Kutschfahrt also, im Schlussspurt klang dieses Abenteuer deswegen mehr nach Tarantino statt nach Tschechow.
Nach der Pause war das Orchester für sich, und ganz bei sich und der Ahnenpflege. Mit Strawinskys „Le Baiser de la Fee“-Divertimento hatte man eine gut gewählte und delikat ausgeführte Tschaikowsky-Hommage zu bieten, bevor mit dessen „Dornröschen“-Ballettsuite das reizende Original anstand, um klar zu machen, dass Tschaikowsky auch ohne Schwulst und Kitsch auskommen und wirken kann. Beinahe besser noch waren die drei knackigen Zugaben von Schostakowitsch, Schnittke und Khatschaturian.