Saalflucht in der Elbphilharmonie:Warum sie mehr als nur ein Ärgernis ist

Der Chef der Elbphilharmonie mochte vor einiger Zeit nicht zu streng mit den Besuchern des Konzerthauses ins Gericht gehen. Am Ende, sagte Generalintendant Christoph Lieben-Seutter im Gespräch mit dem Abendblatt, liege es „immer auch an den Künstlern, das Publikum in ihren Bann zu ziehen“. Bei wirklich tollen Konzerten, so Lieben-Seutter, „geht niemand“.

Tatsächlich?

Nun, zu den Fakten: Vijay Iyer gilt als einer der besten Jazz-Pianisten der Welt, seine Begleitmusiker sind durch die Bank Extra-Könner. Der mit meh­reren Preisen ausgezeichnete Nik Bärtsch und sein Quartett Ronin sind international gefragt und waren auch schon mehrfach in Hamburg. Am Mittwochabend hatten die Genannten einen Auftritt im Konzerthaus an der Elbe, das auch fast zwei Jahre nach seiner Eröffnung immer noch ein Zuschauermagnet ist.

Thomas Andre ist Redakteur im Ressort Kultur des Abendblatts
Thomas Andre ist Redakteur im Ressort Kultur des Abendblatts © HA | Marcelo Hernandez

Die Musiker spielten ein tolles Set, ein Programm, das jeder Jazzfan schätzt. Aber Jazz ist Jazz und damit genauso wenig wie Pop und Klassik jedermanns Sache. Hunderte Besucher verließen, als der Exodus-Anfang erst einmal gemacht war, den Großen Saal vor Konzertende. Mit Ausnahme der Klassikkonzerte, bei denen die hochkulturelle Hemmschwelle Saalfluchten verhindert, ist dies schon öfter vorgekommen. So drastisch wie beim Jazzabend allerdings noch nie. Nun würde Christoph Lieben-Seutter sicher nicht in Abrede stellen, dass er als Intendant mit Iyer und Bärtsch nicht nur Namen Einlass gewährt hatte, die ausreichend für Qualität stehen, sondern auch gleichzeitig feststellen, dass die Künstler tatsächlich ablieferten. Aber was soll er machen?

Es sind ja seine Kunden, um die es hier geht. Publikumsbeschimpfung? Geht nicht. Also freut sich der Intendant zu Recht über die riesige Resonanz, verweist zu Recht darauf, dass durch die Attraktivität der Elbphilharmonie weit mehr Besucher zu vielen Konzerten strömen – und hofft, dass sich blockweise lichtende Reihen wie jetzt die Ausnahme bleiben.

Es geht um die Besucher selbst, um den Respekt, den sie den Künstlern und den übrigen Besuchern entgegenbringen. Im architektonisch und akustisch anspruchsvollen Großen Saal sieht der Besucher theoretisch nicht nur fast jeden, er wird auch von fast jedem selbst gesehen. In geduckter Haltung Richtung Ausgang zu schleichen bringt gar nichts, und was für eine negative Aura ein Konzert nicht zuletzt auch für die Künstler bekommt, wenn im Publikum mit einem Male Lücken klaffen, versteht sich von selbst.

Saaltourismus, der die Kunst zur zweitrangigen Angelegenheit erklärt, hat in den Konzerten selbst und danach in den sozialen Netzwerken mehr als einmal für atmosphärische Störungen gesorgt. Es ist in der Tat nicht einzusehen, dass sich zur Lust auf die Architektur und den Hype so gar keine Neugier auf die Kunst gesellt. Wer nur ein Mindestmaß an Achtung vor der Musik hat, der sollte es auch hinbekommen, einen Konzertbesuch nicht nach der Hälfte abzubrechen.

Die spezielle Architektur eines hehren Hauses, wie die Elbphilharmonie es fraglos ist, bringt auch jenseits von Klassikveranstaltungen eine Art von Verpflichtung mit sich, der Würde eines Ortes gerecht zu werden. Und wer mit Jazz so gar nichts anfangen kann, der sollte sich keine Karte für ein Jazzkonzert kaufen.

Wer aber grundsätzlich nicht nur vorurteilslos, sondern wissbegierig und offen für Neues ins Konzert geht, erlebt Ort und Kultur gleichermaßen.

Was für ein Doppeleffekt.