Hamburg. Werke von Beethoven und Stockhausen erklangen zu Beginn. Es blieb nicht bei dieser hervorragenden Darbietung allein.
Wie viel programmatische Prägekraft entfaltet eigentlich ein Motto wie das des 3. Internationalen Musikfests Hamburg Festival? Kann man den Begriff der Utopie nicht in ein Gutteil aller Musik hineinhören? Ist sie doch eine Form der Kunst und die Kunst ihrerseits eine Erscheinungsweise der Utopie, wie der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann am Eröffnungsabend ausführte.
Beethovens „Missa solemnis“ allerdings, mit der Thomas Hengelbrock und das NDR Elbphilharmonie Orchester das Eröffnungskonzert bestritten, ist dem Utopischen konkret nahe. Visionär, sperrig in der Faktur, horrend anspruchsvoll in der Gestaltung. Das begann im Großen Saal der Elbphilharmonie mit der Orgel-Introduktion, die Beethoven sich gewünscht, aber nie geschrieben hat. Das ging weiter mit den ausgedehnten, hochkomplexen Fugensätzen und hörte mit rund 150 Mitwirkenden nicht auf. Man konnte geradezu spüren, wie Beethoven mit seinen musikalischen Gedanken gerungen haben muss. Bei der Ersteigung dieses Gebirges sind die Künstler sehr weit gekommen. Sie fanden für das Zerklüftete dieser Musik Farben in allen Nuancen von fahl und vibratolos bis gleißend. Hervorragend auch das Solistenquartett mit der Mezzosopranistin Stefanie Irányi, die für Wiebke Lehmkuhl eingesprungen war, sowie der Chor des Bayerischen Rundfunks und der NDR Chor.
Sechs Sänger murmelten „Oooeeeaaaoooeeeaaa“
In der Hauptkirche St. Katharinen ereignete sich tags drauf eine Art kultischer Zeremonie. Auf einem Podest im Altarraum saßen sechs Mitglieder des Forums Neue Vokalmusik um eine kugelförmige Lampe herum und murmelten die Lautfolgen aus Stockhausens „Stimmung“ in ihre Mikrofone. „Oooeeeaaaoooeeeaaa. Dammaruadammaruadammarua.“ Diese Beschwörungsformeln überlagerten sich zu Klangmustern und betteten Konzertbesucher in einen faszinierenden Surroundsound. Leider riss jedoch Stockhausen selbst die Hörer immer wieder aus diesem Strom, indem er die magischen Tonfolgen durch konkrete Wörter und Sätze unterbrach und die Sänger seine eigenen Gedichte rezitieren ließ. Aber dafür konnten ja die Sänger nichts, die das Stück sehr klangschön, allerdings auch reichlich lang zelebrierten.
Schräge Töne von den Holzbläsern
Auch Kent Nagano und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg brachten zu ihrem Konzert am Sonntagmorgen in der Elbphilharmonie ein Vokalensemble mit: Singer Pur, eine Dame und fünf Herren unterschiedlichster Tonlagen, sangen geistliche Musik von Johannes Ockeghem, Josquin Desprez und Heinrich Isaac aus dem 15. und frühen 16. Jahrhundert. In raffiniert ineinandergehäkelten Rhythmen kreiste diese Musik um sich selbst. Der gleiche meditative Gestus prägte auch „Summa“ und „Orient & Occident“ von Arvo Pärt. Die philharmonischen Streicher klangen warm und homogen. Auch das Vorspiel zu Wagners „Parsifal“ leuchtete von innen, nur ein paar schräge Holzbläserakkorde trübten den Eindruck.
Und am Schluss entführten die Bläser und Schlagzeuger des Orchesters das Publikum mit Olivier Messiaens „Et exspecto resurrectionem mortuorum“ dann noch endgültig in die Ewigkeit. So sehr sich Blechgebirge oder Gong- und Tamtam-Schläge aufgipfeln mochten – das Wesentliche ereignete sich in den stillen Momenten dazwischen. Ein Stück der Utopie hat dieses Konzert bereits eingelöst.