Hamburg. Kaum Platz für Maestro-Mätzchen in der Elbphilharmonie: Stardirigent Teodor Currentzis entschlackte Mozart und Beethoven.

Wer heilt, hat recht, sagen Mediziner; und wer auf einem Podest vor über 2000 Menschen zaubern kann, den muss die bodenhaftende und bremsende Schwerkraft der Wirklichkeit nicht mehr jucken. Natürlich kann man es dreist, überdreht und selbstverliebt finden, wie sehr Teodor Currentzis einige Spielregeln der Klassik-Branche ziemlich egal sind. Viele lieben und verhalbgöttern ihn dafür. Andere halten ihn für einen windigen Schaumschläger, einen rumpelstilzchenden Exzentriker in seinen Doc-Martens-Stiefeln, der jedes wehrlose Meisterwerk so sehr verbiegt und verbeult, bis es nur noch nach ihm klingt.

Bloß keine falschen, einlullenden Gemütlichkeiten, die hasst Currentzis, und inzwischen, nach einigen Grundsatzdiskussionen, lässt man ihn überall gern die einbetonierten Konventionen abräumen. Also: alles anders. Zunächst das längere Mozart-Klavierkonzert, erst danach dessen „Figaro“-Ouvertüre vor der Pause? „Macht man nicht?“

Akustik-Gestalter Yasuhisa Toyota vor Ort

Dieser Dirigent doch und erst recht, womöglich auch, weil er so den chronologischen Fluss der Programmpunkte einhielt und dramaturgisch aufeinander aufbauen konnte. Das späte, subtil fließende G-Dur-Konzert KV 453 von anno 1784 mit einem historisch angemessenen Hammerklavier aus jener Zeit, in einem keine zwei Jahre jungen Raum, der für die edelmetallisch flirrenden Nötchen, die aus dem Klimperkästlein flatterten wie von Libellenflügeln getragen, brutal zu groß ist? Viel Glück.

Viel Glück war dann auch das Ergebnis, und das war noch nicht mal die Siebente von Beethoven, die nach der Pause folgte und aus dem Stand süchtig nach mehr currentzisiertem Beethoven machte. Und es war bestimmt kein Zufall, dass der Akustik-Gestalter Yasuhisa Toyota an diesem so speziellen Abend vor Ort war, um diese Bewährungsprobe seiner Millimeterarbeit mitzuerleben. In anderen, klassischeren Sälen der aktuellen Currentzis-Konzerttournee dürfte die Achtsamkeitsübung für Gehör und Gehirn kleinlaut gescheitert sein, doch am Freitag im Großen Saal der Elbphilharmonie trug dessen Akustik gerade wegen seiner gefürchteten Hellhörigkeit diesen Klang so gerade eben genug. Das sehr dünne Eis hielt, auf dem sich die Minimalbesetzung des spektakulären Currentzianer-Orchesters MusicAeterna ohne den Hauch eines Zweifelns begab.

Im Kollektiv gedacht, geatmet

Auch die Wahl des Instruments zeigte: Bei Currentzis wird, nach vielen Wenns und Abers im Proben-Vorfeld, im Kollektiv gedacht, geatmet, gefühlt, wenn es darauf ankommt. Sein Konzertmeister, den es, da fast alle stehend spielen, als Sidekick kaum hinter dem Notenpult hielt, zog das Orchester ebenfalls drängend mit. Alexander Melnikovs Part war hier einer unter wenigen, er war ein eingebetteter Mit-Spieler, nicht herausragender Virtuose mit gehorchender Tutti-Umrahmung. Schöne und geistreiche Musik genug war ja für alle da in diesem Stück. Und weil alle sich den Spielraum für diese radikale Freiheit so eng begrenzt hatten, blieb in dieser wunderbar und wundersam aufblühenden halben Stunde kaum Platz für Maestro-Mätzchen bei der Dynamik, die das schmalschultrige Klavierchen sofort unter sich begraben hätte. Currentzis wollte mit diesem extrem behutsamen, pädagogisch wertvollen Konzert auf einem Stecknadelkopf seine Pirouetten drehen. Melnikovs klangliche Gestaltungsvielfalt hielt sich naturgemäß in Grenzen, entweder spielte er oder nicht, doch die Musikalität, mit der er seine Dialogzeilen ins Geschehen einbrachte, hatte Tiefe und Anmut.

Danach der Kavalierstart in die „Figaro“-Ouvertüre, vier Minuten, flott, forsch, hemmungslos präziser Spaß. Rock ’n’ Roll, breitbeinig, ganz ohne Gitarren, respektlos und doch ehrfürchtig. So dirigiert, wie der junge Muhammad Ali seine Gegner mit breitem Grinsen in den Wahnsinn tänzelte, bevor der entscheidende Punch kam. Konnte man nicht nicht toll finden, weswegen dann auch der erste Applaus schon losbrach, als der letzte Akkord noch durch die Saal-Luft flirrte.

Beeindruckender zweiter Satz

Revolutionär, aufbrausend und elegisch, zwischen diesen Polen bewegt sich Beethovens Siebente, ihre Einleitung ist ein Drama für sich, dort bündeln und sammeln sich die Ideen für alles, was folgt. Currentzis arbeitete minutiös heraus, wie vielschichtig und Geduld fordernd diese Einleitungstakte sind, er variierte Phrasierungen und Tempi, bis das Vivace die Spannung löste und eine sehr große Tür in eine Welt sich öffnete, in der es mutig strahlte. Noch beeindruckender, noch exemplarischer und experimenteller war der zweite Satz: Bis an den Rand des Nichtmehrspielens drosselte Currentzis das Orchester, extrem gespannt und extrem spannend, mit Mitdenkpausen, unerwarteten Phrasierungen und einem sehr ruhigen, sehr getragenen Grundpuls, der dennoch nicht ins Stocken geriet. Man kann diesen Beethoven auch grundsätzlich anders zu hören bekommen. Ernsthafter und erhabener? Das wird sehr schwierig. Das Presto nahm vor allem Anlauf in den Schlusssatz, zum Rhythmus, bei dem jeder mit muss, insbesondere der knochentrocken wirbelnde Paukist hatte hier große Szenen. Beethoven mit Anschnallpflicht.

Wie schon vor gut zwei Jahren bei seinem – damals noch lautstark umstrittenen Auftritt in der Laeiszhalle ebenfalls mit Beethoven und Mozart – war dieses Konzert eine Entschlackungskur für das Geschmackszentrum des Publikums. So anders kann Bekanntes sein. Diesmal, wie richtig erkannt und wie unmittelbar mitempfunden, gab es keine wütenden Buh-Rufe, sondern Begeisterung, Verzückung geradezu. Und keine Zugabe, damit der Entzug größer ist.

Die nächsten Currentzis-Konzerte: Bei der „Großen Nachtmusik“ zur Eröffnung vom Musikfest Bremen am 25. August dirigiert er die Beethoven-Sinfonien 5, 6 und 7 (www.musikfest-bremen.de). CDs: T. Currentzis, Music-Aeterna: „Tschaikowsky 6“ (Sony Classical); A. Melnikov: „Four Pieces“, Werke von Schubert, Chopin, Liszt und Strawinsky auf je historisch passenden Flügeln (harmonia mundi).