Hamburg. John Neumeier probt sein neues Ballett nach dem Roman von Leo Tolstoi – und denkt dabei auch an die Ehe des US-Präsidenten.

Mit seiner Uraufführung am 2. Juli wird sich John Neumeier wieder in die Tiefen der russischen Literatur begeben. Seine Inspiration: Leo Tolstois großer Roman „Anna Karenina“. Kein klassisches Handlungsballett soll das werden, mit schönen historischen Kostümen, denn „diesen Roman kann man nicht vertanzen“, erklärte der Ballettchef bei einer Probe im Ballettzentrum.

Sein Tanzprojekt solle die geschlossene erzählerische Form hinter sich lassen und sich stattdessen mit den Beziehungen, Gefühlen und Gedanken der wichtigsten Figuren, also mit der „Essenz“ des Romans, choreografisch beschäftigen. Es ist eine große, internationale Koproduktion mit dem Moskauer Bolschoi-Theater und dem National Ballet of Canada. Wie so oft liegen Regie, Bühnenbild und fast alle Kostüme in der Hand des Choreografen, einzig für die elegante Anna Karenina, getanzt von Anna Laudere, entwirft der renommierte Modedesigner Albert Kriemler die Roben.

Gefühle, die schon Tolstoi beschrieb

Auf der Probebühne in Hamm stehen zwei variable Wandelemente mit Türen, die den schnellen Wechsel zwischen den vielen Schauplätzen möglich machen. Den Unheil verkündenden Zug vom Romananfang sucht man hier vergeblich. Als Erstes tanzen Anna Laudere und Ivan Urban, der in dieser Arbeitsprobe seinen derzeit verletzten Kollegen Carsten Jung vertritt, eine Szene, die die tiefe Kluft zwischen den Eheleuten Karenin schmerzlich spürbar macht: Sie schaut ihm, der von einer Wahlkampfveranstaltung kommt, sehnsuchtsvoll in die Augen, er hält das nicht lange aus und entzieht sich immer wieder ihren Annäherungsversuchen. „Das Wichtigste im Leben von Anna Karenina ist die Liebe“, davon ist die Tänzerin Anna Laudere überzeugt. Das Wichtigste im Leben ihres Mannes aber ist wohl die Politik.

Hauptfigur reibt sich auf

Die Hauptfigur reibt sich auf zwischen ihrem desinteressierten Ehemann (später von Carsten Jung getanzt) und ihrem Liebhaber, dem schmucken Offizier Wronski (Edvin Revazov). In seinem Ballett gehe es nicht so sehr um ihre Untreue, sagt John Neumeier. Wichtiger sei die gesellschaftliche Dimension: Annas Liebesaffäre schade dem Ruf des Politikers Karenin, und das sei heute noch so wie damals.

„Anna Karenina“-Boom in Hamburg

Wie genau die Öffentlichkeit hinsehe, habe die Reaktion darauf gezeigt, dass Donald Trumps Ehefrau Melania kürzlich ihre Hand weggezogen habe, als dieser sie habe ergreifen wollen. „Daran sieht man, wie wichtig bis heute die Repräsentation ist“, sagt Neumeier. Ihn interessiert dabei: „Was darf eine Frau tun, was ein Mann? Und warum gibt es da so eine große Diskrepanz?“

„Was darf eine
Frau tun, was ein
Mann?“ sind
Fragen, die John
Neumeier
beschäftigen
„Was darf eine Frau tun, was ein Mann?“ sind Fragen, die John Neumeier beschäftigen © dpa

Beziehungen und Gefühle, die Tolstoi beschrieben habe, seien „heute genauso aktuell wie 1878. Und es ist noch immer eine unglaublich schwierige Entscheidung, sich für die eigene Liebe zu entscheiden und dafür ein Kind zu verlassen.“ Die zweitwichtigste Figur hat Leo Tolstoi mit dem Landadeligen Lewin geschaffen, den Aleix Martinez tanzt. Lewin sei „ein sehr grüblerischer Mensch, der nach dem Sinn des Lebens sucht. Ein Landmensch, der sein Gut nie verkaufen würde, der jeden Baum kennt und der nicht aufgibt“, so Neumeier.

Wichtigkeit der Natur

Dieser Mensch verkörpert für ihn die Wichtigkeit der Natur – wenn man so will, eine Art Gegenprinzip zu Stadt und Kultur. Der Choreograf setzt als „Verbeugung vor einer anderen Zeit“ Musik von Peter Tschaikowsky ein und von Alfred Schnittke, aber lange musste er nach dem passenden musikalischen Stil für Lewin suchen, um dieser Außenseiterfigur ein besonderes Gewicht zu geben. Schließlich kam er überraschenderweise auf Cat Stevens, dessen „Moonshadow“ jetzt auf der Probe aus den Lautsprechern erklingt. Cat Stevens, findet Neumeier, sei ein bisschen so wie Lewin, auch ein „Gottsucher“.

„Anna Karenina“ Uraufführung So, 2.7., 18.00 Hamburgische Staatsoper, Große Theaterstr. 25, weitere Vorstellungen: 4. und 14.7. (alle ausverkauft). Für folgende Termine gibt es noch Karten: 23., 28., 29.9., 2., 19. und 21.10. Karten gibt es unter T. 35 68 68.