Vierter Teil der Serie: Hinter den Kulissen des weltweit erfolgreichsten Stücks an einem Standort.

Was selbst eingefleischte Musical-Fans erstaunlicherweise häufig nicht wissen: Als Friedrich Kurz Ende der 80er-Jahre die Deutschen nach „Cats“ zum zweiten Mal mit einem Musical-Virus infizierte, handelte es sich nicht um das unglücklich verliebte „Phantom der Oper“, sondern um den Liebesreigen von etwa zwei Dutzend Lokomotiven nebst Waggons, für deren „Internationale Meisterschaft der Lokomotiven“ in Bochum extra ein eigenes, festes Theater gebaut wurde. Und die Tänzer erst mal Rollschuh fahren lernen mussten.

Aber warum Bochum? Wieso wurde ausgerechnet hier im Revier, in der einstmals blühenden Bergbaustadt, die sich trotz ihres vermeintlich „unabsteigbaren“ Bundesligaclubs VfL, dem renommierten Bergmannsheil-Krankenhaus und dem Deutschen Bergbau-Museum mit nicht allzu vielen Glanzlichtern schmücken kann, ein Musicaltheater gebaut, das dann auch noch lediglich für ein einziges Stück genutzt werden kann? „Weil man Bochum nicht isoliert betrachten darf“, sagt die „Starlight Express“-Sprecherin Ellen Lübke-Meier, „man muss immer die gesamte Metropolregion Ruhrgebiet als Einzugsgebiet im Auge behalten.“

Das Musical steht sogar im „Guinnessbuch der Rekorde“

Genau das hatte vermutlich auch Friedrich Kurz im Sinn, als er den Bochumern das SL-Theater vor 28 Jahren am Stadionring errichten ließ. Rusty, Pearl & Co. sind in dieser Zeit längst heimisch geworden. Das rasante Rollschuh-Musical von Andrew Lloyd Webber gilt mit über 15 Millionen Besuchern als das weltweit erfolgreichste Musical an einem Standort – so steht es zumindest im „Guinnessbuch der Rekorde“ –, auch wenn es seit dem Zusammenbruch der Stella AG mehrfach den Besitzer wechselt­e. Seit 2009 gehört das Theater zum Mehr!-Entertainment-Konzern des ehemalige­n Stage-Entertainment-Geschäftsführers Maik Klokow, der zu diesem Theater und dem Musical eine besondere Beziehung hat.

Der „Starlight Express“ läuft und läuft und läuft und ist ein extrem wichtiger Wirtschaftsfaktor für die Stadt an der Ruhr. Von den rund 60 Millionen Euro, die von den Mucialgästen aus aller Welt jährlich ausgegeben werden, partizipieren vor allem die Hotels, die Gas­tronomie und der Einzelhandel gleichermaßen.

„Der Musicalmarkt ist nie gesättigt“, sagt Maik Klokow. „Wir registrieren in Bochum ja bereits die zweite Generation, die als Jugendliche oder junge Erwachsene mit ihren Eltern den ,Starlight Express‘ besucht haben und jetzt mit ihren eigenen Kindern in das Stück gehen. Aber wir dürfen uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen.“ Das heißt: Die Aufführung wurde über die Jahre immer wieder behutsam musikalisch aufgepeppt, modernisiert, beschleunigt.

Ausgeklügelte Marketingstrategie

Hinzu komme eine ausgeklügelte Marketingstrategie, die unter anderem spe­zielle Werbe- und Sonderaktionen hervorbrächte, sodass die bis zu acht Shows pro Woche auch im 29. Jahr sehr gut frequentiert seien, bestätigt Sprecherin Lübke-Meier: „Und das trotz der massiven Musical-Konkurrenz, der sich der ,Starlight Express‘ gerade im Ruhr­gebiet stellen muss.“

Der technische Aufwand, der für dieses Musical betrieben wird, ist enorm. Zum einen existiert eine der aufwendigsten Beleuchtungsanlagen, die jemals in einem Theater zum Einsatz gekommen sind: 800 Scheinwerfer erzeugen mithilfe von 60 Farbwechslern immer neue Stimmungen, 840 Leuchtstofflampen verwandeln die Laufbahn in Gleise, und ungezählte Lichtpunkte zaubern eine Nacht voll funkelnder Sterne. Zum Höhepunkt der Show, wenn Rusty dem legendären „Starlight Express“ begegnet, verwandelt ein Laser den Nebel zu einem Himmelszelt.

Leon Maurice-Jones
als Electra
beim „Starlight Express“ in
Bochum
Leon Maurice-Jones als Electra beim „Starlight Express“ in Bochum © picture-alliance/ dpa

Das Herzstück der Technik ist eine neun Tonnen schwere Brücke, die über der insgesamt 1100 Quadratmeter großen Bühnenfläche schwebt. In alle Richtungen schwenkbar, entstehen so immer neue Ebenen, die E-Lok „Electra“ hat auf der Brücke sicherlich ihren spektakulärsten Auftritt.

Die Musik aus der 40.000-Watt-Anlage wird unter der Bühne von einem Orchester live eingespielt, denn wegen der Laufbahnen kann es im Auditorium selbst keinen Orchestergraben geben. Der Dirigent hat dabei nicht nur die Musiker im Blick, sondern kann über mehrere Monitore auch sämtliche Winkel der Bühne einsehen. So benötigt das Orchester jedoch auch besonders lange analoge Kabelwege, damit der Sound optimal in den Theatersaal übertragen werden kann.

Schminken dauert über eine Stunde

Über eine Stunde dauert es im Durchschnitt, bis die Darsteller mit der „Maske“ durch sind. Alle 26 schminken sich selbst, allein auf die Lippen müssen drei Farbschichten aufgetragen werden. Dennoch haben auch die Maskenbildner eine Menge zu tun. Sie überprüfen genau die Verwandlung von Mensch in Zug(-Maschine) und sind für das Knüpfen und Aufsetzen der Perücken verantwortlich.

Alle Kostüme, von der Dampf- bis zur E-Lok, werden in der hauseigenen Theaterschneiderei von Hand angefertigt. Insgesamt 21 Kostümschneider und -maler, eine Hutmacherin sowie ein Spezialist für Airbrush-Technik sind fast rund um die Uhr mit der Herstellung und der Reparatur der Kostüme beschäftigt. Kleine Räder und Puffer scheinen aus Eisen, sind aber aus Gummi – eine spezielle Lackierung macht’s möglich. Trotzdem müssen die Darsteller körperliche Schwerstarbeit verrichten.

Ensemble verbringt bis zu zehn Stunden täglich auf Rollschuhen

Das aufwendigste Kostüm ist das von „Papa“ – es wiegt stramme 18 Kilogramm. Zwei „Dresser“ pro Darsteller sorgen dafür, dass ein Kostümwechsel auch mit der gebotenen Schnelligkeit funktioniert. Das Ensemble verbringt während der Probenzeit bis zu zehn Stunden (!) täglich auf Rollschuhen – da müssen diese natürlich wie angegossen sitzen. Fürs gut dreimonatige Fahrtraining selbst ist mit dem Kalifornier Michal Fraley einer der besten Coaches des internationalen Rollschuhsports zuständig. Bei ihm lernen die Neuzugänge – die zum größten Teil aus Großbritannien und den USA stammen – wie sie auf Rollschuhen oder Inline-Skatern tanzen, dabei mehrfache Drehungen und gewagte, absichtlich herbeigeführte, Stürze und eine zwei Meter hohe, beinahe senkrechte Schräge bewältigen können.

Die Tänzer erreichen während der „Rennen“ eine Geschwindigkeit von bis zu 60 Kilometer/Stunde. Während die Show läuft, stehen daher immer einige Skatemechaniker hinter der Bühne bereit und wechseln bei Bedarf in Sekundenschnelle (aber im Licht einer Taschenlampe!) Räder, Stopper oder Achsen aus; das ist durchaus vergleichbar mit einem Boxenstopp in der Formel 1. Immerhin besteht ein solcher Spezialschuh ja auch aus 146 Einzelteilen, da darf schon mal was kaputt gehen. „Wenn man die Aufführungen aus dem Jahre 1988 mit denen aus dem Jahre 2015 vergleicht, liegen dazwischen Welten“, sagt Maik Klokow, „alles ist schneller geworden: Die Lichtwechsel, die Musik, die Rennszenen.“

Die kosmetischen Korrekturen begannen im Jahr 2002, als die deutsche Fassung erstmals überarbeitet wurde. Neben der Einführung eines fetzigen „Megamixes“, in dem am Ende – als eine Art Zugabe – noch einmal einige Melodien des Musicals zusammengefasst sind, wurden einige Lieder ausgetauscht. Das Grundschema wurde strikt beibehalten – denn Lloyd Webber hat in seinem Eisenbahn-Opus die unterschiedliche Musikrichtungen wie Pop, Rock, Blues und Electro den jeweiligen Lokomotiven zugeordnet – der besseren Wiedererkennbarkeit wegen.

Im Oktober 2006 bekam Greaseball brennende Rollschuhe und die E-Lok Electra Funkenfontänen für die Rennen spendiert, und seit einiger Zeit sind auch zwei Stunt-Skater („Trax“) in die Show implementiert, die auf Inlineskates zwischen den Rennen mehrere waghalsige Tricks vorführen und während der Rennen als Streckenposten fungieren. Mehr!-Entertainment-Chef Maik Klokow glaubt jedenfalls fest daran: „Der ,Starlight Express‘ wird ganz sicher auch in den nächsten Jahren auf seinem Erfolgskurs bleiben.“