Hamburg. Teil 3: Letztlich geht es immer nur um den nachhaltigen, wirtschaftlichen Erfolg – auch als Werbefaktor.
Woran die Musicalfans sich in den kommenden Jahren wahrscheinlich werden gewöhnen müssen, sind die kürzeren Laufzeiten der Stücke. Echte Langläufer wie „Disneys König der Löwen“ (15 Jahre in Hamburg) oder „Starlight Express“ (28 Jahre in Bochum) sind seltener geworden. Das beweist ein Blick auf den jüngeren Hamburger Spielplan: Am 23. November 2014 feierte man die Welturaufführung der Eigenproduktion „Das Wunder von Bern“, für die sich jedoch am 5. Januar 2017 zum letzten Mal der Vorhang des Stage Theaters an der Elbe heben wird.
Am 16. Oktober 2015 gab es dann die deutsche Uraufführung von „Liebe stirbt nie“ im Stage Operettenhaus (das Stück lief jedoch nur bis zum 25. September 2016), ab dem 6. Dezember 2015 durfte dann „Aladdin“ im Stage Theater Neue Flora seinen fliegenden Teppich starten, und seit dem 10. November dieses Jahres läuft das „Lindical“ „Hinterm Horizont“ – aber voraussichtlich nur ein gutes halbes Jahr. Vier solche großen Premieren hintereinander muss man erst einmal stemmen. Die Stage Entertainment folgt jedoch längst einem ausgeklügelten Rotationssystem und nutzt hierfür ihre eigenen Theater. „Disneys Tarzan“ beispielsweise schwang sich ab 2008 zunächst in Hamburg, ab 2013 dann in Stuttgart von Liane zu Liane – und seit dem 6. November wird das Dschungelmärchen in Oberhausen erzählt.
Dass sich das Musical in den vergangenen drei Jahrzehnten hierzulande zu einer solch tragenden Säule der gehobenen Unterhaltungskultur entwickeln konnte, gilt als „deutsches Phänomen“: Denn weder in den USA noch in Großbritannien, den eigentlichen Geburtsstätten des Musicals, herrschen eine solch breite Zustimmung und eine so große Publikumsbegeisterung, die sich quer durch alle Bevölkerungsschichten ziehen. Mit einer einzigen, erstaunlichen Ausnahme: Ausgerechnet in der bayerischen Landeshauptstadt München hat die Begeisterung für ein festes Musicaltheater bisher nicht ausgereicht.
Musicals haben mehr Fans als die Fußballbundesliga
Dennoch registrieren Musicals innerhalb eines Jahres inzwischen mehr Zuschauer als alle klassischen deutschen Sprechbühnen zusammen – oder die gesamte Fußballbundesliga mit ihren 13 Millionen Fans in der Saison 2015/2016. Den etablierten Opern- und Theaterhäusern haben sie also – in kommerzieller Hinsicht – den Rang längst abgelaufen. Musicals haben sich darüber hinaus ebenfalls zu einem ebenso eigenständigen wie lukrativen Nebenerwerbszweig des staatlichen Theaterbetriebs gemausert, der inzwischen verstärkt auf neue Bedürfnisse, den sich kontinuierlich verändernden Zeitgeist sowie aktuelle Modeströmungen reagiert.
Produktionskosten hin, Flops her: Nach wie vor ist in der Branche unverdrossen von Wachstum die Rede. Dazu tragen vor allem die großen Musical-Theater in Berlin, Düsseldorf, Hamburg, Köln, Oberhausen und Stuttgart bei; doch auch in kleineren Städten, wie zum Beispiel Hameln, wo das englische Musical „Rats“ (Musik: Nigel Hess, Text: Jeremy Browne) bereits seit der Expo in Hannover im Jahr 2000 regelmäßig gespielt wird, sind Musicals zur festen Größe im Kulturbetrieb gereift.
Vielzahl erfolgreicher Eigenproduktionen
Hinzu kommen eine Vielzahl äußerst erfolgreicher deutscher Eigenproduktionen wie etwa die „Heiße Ecke“ auf der Hamburger Reeperbahn im Schmidt-Theater (Inszenierung: Corny Littmann/Musik: Martin Lingnau/Text: Thomas Matschoß), das Berliner Udo-Lindenberg-Musical „Hinterm Horizont“ und nicht zuletzt auch die legendären „Liederabende“ von Franz Wittenbrink, die seit 1995 das Hamburger Schauspielhaus (zum Beispiel „Sekretärinnen“) immer mal wieder bis auf den letzten Platz füllten und inzwischen quer durch die Republik nachgespielt werden.
Doch wann ist ein Musical eigentlich erfolgreich? Um das zu beantworten, muss man sich die Parameter genauer anschauen. Dass beispielsweise ein Musical-Theater mit annähernd 600 Plätzen (wie etwa das Schmidts Tivoli) trotz eines Kassenschlagers wie der „Heißen Ecke“ (Premiere war im September 2003) dreimal länger für eine Million Zuschauer benötigt als das neue Stage Theater an der Elbe mit seinen rund 1850 Sitzplätzen, dürfte selbst Nicht-Mathematikern sofort einleuchten. Andererseits könnte man auch sagen: Dafür läuft das Stück im kleineren Haus auch dreimal so lange, bis es denn irgendwann doch als „abgespielt“ gilt und vom Spielplan gestrichen wird.
Renommieren und lautes Trommeln gehören zum Geschäft. Zurzeit wird zum Beispiel nach wie vor „Das Phantom der Oper“ als das erfolgreichste Musical aller Zeiten gehandelt: Mehr als 130 Millionen Besucher haben das Stück weltweit bisher gesehen, es bekam mehr als 50 internationale Auszeichnungen und spielte insgesamt rund 5,6 Milliarden Dollar ein. Aber diese Zahlen, die sich dank dem Internet munter verbreiten, stammen aus dem Jahr 2013, als „Disney’s König der Löwen“ mit einem Einspielergebnis von rund vier Milliarden Dollar auf dem zweiten Platz rangierte (auf Platz drei folgte das Musical „Wicked“ mit rund drei Milliarden Dollar, auf Platz vier „Cats“ mit 2,8 Milliarden).
Bereits zwei Jahre später – im Frühsommer 2015 – konnte „Disneys König der Löwen“ das „Phantom“ nach einem sprunghaften Umsatzzuwachs überholen. Am Broadway läuft das Stück zwar erst seit 1997 („Das Phantom der Oper“ seit 1988), aber der generierte Umsatz kletterte auf 6,2 Milliarden Dollar; das „Phantom“ lag zum selben Zeitpunkt „nur“ bei glatten sechs Milliarden Dollar. Doch da sind ja dann noch die internationalen „Ableger“ in London, Tokio und natürlich in Hamburg. Insgesamt wird „Disney’s König der Löwen“ zurzeit weltweit in 22 verschiedenen Produktionen aufgeführt.
Das Musical „Mamma Mia!“ spielte in rund 325 Städten
Auch der „Starlight Express“ wird immer wieder gern als „das erfolgreichste Musical der Welt“ bezeichnet. Seit der Bochumer Premiere am 12. Juni 1988 haben weit mehr als 15 Millionen Zuschauer das Musical im Ruhrpott besucht (die Uraufführung fand im Londoner Apollo Theatre am 27. März 1984 statt) – damit ist es zurzeit das Musical „mit der längsten Laufzeit an einem Standort“. Eine Tournee wäre ja allein schon wegen des Bühnenbildes schlichtweg unmöglich.
Es sind immer wieder verwirrende Zahlenspiele, die vor allem den Marketingabteilungen der Produzenten dienen: „Wenn so viele Menschen ein Musical besuchen wollen, dann kann es ja unmöglich schlecht sein“, heißt es. Und so holt zurzeit ein sogenanntes Jukebox-Musical mächtig auf, und das international: Das Musical „Mamma Mia!“ wurde inoffiziell erstmals am 23. März 1999 in London aufgeführt, die offizielle Weltpremiere fand dann am 6. April 1999 ebenfalls in London, im Prince Edward Theatre, statt – übrigens auf den Tag genau 25 Jahre nach dem Sieg der Popgruppe ABBA beim Eurovision Song Contest mit ihrem Song „Waterloo“ am 6. April 1974.
Als dann dieses Stück im Jahr 2013 bereits zum zweiten Mal (!) in Stuttgart gastierte, veröffentlichte die Stage Entertainment Deutschland folgende Pressemitteilung: „Bislang über 50 Millionen Zuschauer weltweit in 325 Städten.“ Damit wäre „Mamma Mia!“ das Musical, „das sich am rasantesten in der ganzen Welt verbreitet hat“. Vermutlich ist es das auch. Allerdings ist das ein Titel, für den sich das Unternehmen nichts kaufen kann. In Hamburg lief diese „Hitmaschine“, bei der die Zuschauer spätestens nach dem dritten Song von ihren Stühlen springen und mitklatschen, von 2002 bis 2007 im Operettenhaus. So ist das eben mit den Listen in der Musical-Welt: Es ist schlichtweg unmöglich, allgemeingültige Top-Ten-Listen zu erstellen. Alleine im Internet kursieren Hunderte solcher Zahlenwerke. Doch kaum sind sie aufgeschrieben, sind sie auch schon wieder veraltet.