Teil 2: Auch die erfolgreichsten Produzenten kämpfen immer wieder mit einem existenziellen Problem.

Ende Juni 2015 wurde die bis dahin heile Hamburger Musicalwelt von einer Nachricht überrascht: Ausgerechnet Joop van den Ende, der die Elbme­tropole zur deutschen Musicalhochburg geformt hatte, zog sich aus seinem Unternehmen Stage Entertainment zurück, indem er 60 Prozent seiner Anteile an die Investmentfirma CVC Capital Partners verkaufte, einen der führenden Investmentfonds mit 20 Büros in aller Welt. Der damals 73 Jahre alte Niederländer behielt lediglich 40 Prozent der Firmenanteile.

Seine beiden Kinder wollten die Nachfolge nicht antreten, „meine Tochter ist TV-Produzentin mit eigener Firma, und mein Sohn ist Dance-Produzent und DJ“, teilte van den Ende den rund 1700 Stage-Mitarbeitern seinen Entschluss per Videobotschaft mit (allein in Hamburg arbeiten mehr als 1000 Beschäftigte). Sein Interesse für das Musical sei zwar nach wie vor groß, „doch angesichts meines Alters muss ich realistisch sein, und ich möchte das von mir geplante Wachstum nicht allein realisieren“.

Mit ihrem selbst produzierten Musical „Das Wunder von Bern“ und dem extra dafür errichteten Stage Theater an der Elbe (Premiere am 23. November 2014) war es der Stage Entertainment gelungen, schon im ersten Aufführungsjahr eine halbe Million zusätzlicher Besucher nach Hamburg zu locken. Doch dann kam das hartnäckige Gerücht auf, dass die Zahlen sich wohl doch nicht in dem Maße positiv entwickelt hatten wie erhofft. Und so wird am 5. Januar 2017 Schluss sein mit dem herzerweichenden Vater-Sohn-Drama, das über eine Million Zuschauer gesehen hat. Eine Tournee durch Deutschland ist vorerst nicht geplant.

Der technische Aufwand verursacht immense Kosten

Das Dilemma der Musical-Industrie, die ja im Gegensatz zum staatlichen Kulturbetrieb keinen Cent aus öffentlichen Kassen erhält, sind die Produktionskosten, die mit dem technischen Aufwand einhergehen, den das Publikum angesichts der ziemlich saftigen Eintrittspreise – neben einer guten Story selbstverständlich – erwartet. Heißt es im professionellen Leistungssport „höher, schneller, weiter“, gilt für das Musical die Losung „bunter, aufwendiger, spektakulärer“. Denn die Ansprüche des Publikums sind in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen. Nicht wenige Kritiker fürchten inzwischen sogar, dass die traditionellen, künstlerischen Werte des Musicals – Musik, Gesang, Libretto – Gefahr laufen, vom „optischen Overkill“ dominiert zu werden.

Tatsächlich ist es längst ein schmaler finanzieller Grat, auf dem sich die Produzenten bewegen – siehe etwa das „Aladdin“-Musical nach dem gleichnamigen Walt-Disney-Zeichentrickfilm (Musik/Libretto: Alan Menken), das schon knapp zwei Jahre nach seiner Broadway-Premiere am 20. März 2014 am 6. Dezember 2015 im Stage Theater Neue Flora seine Deutschland-Premiere feierte. Es ist das technisch aufwendigste Stück, das bisher in Hamburg gezeigt wurde. Die Produktionskosten liegen im zweistelligen Millionenbereich, über deren wahre Höhe drang jedoch nichts nach außen.

Auf dem zweiten Platz: die Fortsetzung des „Phantoms“, „Liebe stirbt nie“, die schon in New York nicht an den Erfolg des ersten Teils anknüpfen konnte. Daraufhin wurde die Inszenierung in Sydney technisch aufgemotzt. Diese Bombastik des eher opernhaften Musicals sorgte ausgerechnet bei der Hamburger Premiere am 15. Oktober 2015 im Stage Operettenhaus für eine mehrminütige Unterbrechung im ersten Akt, als ein Teil der komplizierten Bühnenmechanik plötzlich ihren Dienst verweigerte.

Problem mit Kosten so alt wie das Musical selbst

Das Problem mit den hohen Produktionskosten ist so alt wie das Musical selbst. Seine musikalischen Wurzeln liegen zwar in Europa, doch nur im New York des 19. Jahrhunderts, diesem Schmelztiegel der (eingewanderten) Kulturen, konnte sich das „Musical“ mit all seinen Facetten etablieren. Am Broadway, der kulturellen Schlagader dieser Stadt, prallten die Wiener Operette, die „Burleske“, das französische „Vaudeville“-Singspiel und das amerikanische „Ministrel“ aufeinander, und die Macher besaßen keine Skrupel, das jeweils Beste aus den klassischen Operettenstoffen zusammenzurühren und mit bewährten amerikanischen Revue-Elementen wie Clownerie, Tanz, Song und Satire zu würzen.

„The Black Crook“ („Der Gauner in Schwarz“) gilt dabei als das erste „richtige“ Musical. Die Musik für diese fünfeinhalb Stunden lange komische Oper (offiziell als „Extravaganza“ bezeichnet) war aus zahlreichen Werken zusammengeklaubt worden, enthielt aber auch eigens komponierte Lieder. Nach der Uraufführung am 12. September 1866 in „Niblo’s Garden“ wurde „The Black Crook“ noch 475-mal am Broadway gespielt, was damals als sensationeller Rekord gewertet wurde, wo diese Geschichte eines alten Zauberers doch ausgerechnet im 16. Jahrhundert im norddeutschen Harz spielt.

Geschichten ohne hohen intellektuellen Anspruch

Doch auf den Inhalt kam es dem Publikum vermutlich gar nicht so sehr an: Nachforschungen ergaben, dass damals bis zu 70 französische Tänzerinnen gleichzeitig ihre Beine zu einem Cancan auf der Bühne fliegen ließen; es gab eine straffe Choreografie, zahllose bis ins kleinste Detail ausgearbeitete Kostüme sowie erstmals einen Extra­beleuchter, der für verschiedene Lichtstimmungen zu sorgen hatte. Mit „The Black Crook“ wurde erstmals das Musicalvirus freigesetzt, das rund 60 Entwicklungsjahre später, am 27. Dezember 1927, mit der Uraufführung von „Show Boat“ (Musik: Jerome David Kern, Buch und Liedtexte: Oscar Hammerstein) im Ziegfeld-Theater schließlich die weltweite Musicalepidemie auslöste.

Denn dieses Stück enthielt nun das, was trotz aller technischen Gimmicks bis heute als die wichtigste Erfolgszutat gilt – eine relevante und lebenswirkliche Geschichte mit Happy End: An Bord eines der luxuriösen Theaterschiffe, die damals auf dem Mississippi verkehrten, verliebt sich der schwarze Maschinist Joe in die Varieté-Tänzerin Magnolia, deren Vater ausgerechnet der Kapitän des Raddampfers ist. „Show Boat“ thematisierte so viele Probleme wie unglückliche Liebe, Rassentrennung, Alkohol- und Spielsucht sowie die Scheinwelt des Showgeschäfts selbst.

Der Times Square
an der Ecke
Broadway und
Seventh Avenue
heute: Er ist für
seine Leuchtreklamen
berühmt
Der Times Square an der Ecke Broadway und Seventh Avenue heute: Er ist für seine Leuchtreklamen berühmt © Getty Images

Trotz des großen Erfolgs von „Show Boat“ und der vielen nun nachfolgenden Musicals atmeten die New Yorker Produzenten Anfang der 30er-Jahre dann erleichtert auf, dass in dieser ersten Hochzeit des Genres, an der Westküste der USA in einer Traumfabrik namens Hollywood, der neue Tonfilm aufkam. Hier trafen jetzt Broadwaygrößen wie Gene Kelly, Ginger Rogers und Fred Astaire auf Kinderstars wie Shirley Temple und Judy Garland, vor allem aber auf ein ganzes Heer von Komponisten, Autoren, Regisseuren und Produzenten, die alle gemeinsam einen aufwendigen Musikfilm nach dem anderen produzieren wollten: Mit den zunehmend weltweit distribuierten Kopien konnten gigantische Zuschauermassen in die Kinos gelockt werden, womit die Investitionskosten sich meist zigfach wieder hereinholen ließen.

Hinzu kam, dass der Musikfilm sich hervorragend zu Propagandazwecken einsetzen ließ, da er die Gefühle von Massen zu elektrisieren vermochte, was 1939 mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs dann auch die Nazis erkannten: Unter dem Reichspropaganda­minister Joseph Goebbels stieg die Produktion von deutschen Musikfilmen gewaltig an.

Die Geschichten, die sich am deutschen Alltagsleben orientierten, be­saßen keinen hohen intellektuellen Anspruch, sondern sollten vor allem beton­t positive Botschaften transportieren. Die Manipulationsmaschinerie funktionierte perfekt: Wurden 1933 noch 245 Millionen Kinokarten verkauft, waren es 1943 bereits mehr als 1,2 Milliarden. Filme wie „Es war eine rauschende Ballnacht“ (1939) von Carl Froelich, in der Marika Rökk und Zarah Leander auftraten, oder Helmut Käutners „Wir machen Musik“ (1942) mit der Sängerin und Kunstpfeiferin Ilse Werner wurden zu unglaublichen Kassenerfolgen. Im selben Jahr intonierte Zarah Leander im Musikfilm „Die große Liebe“ jedoch zwei Schlager, die in eine düstere Richtung wiesen: „Davon geht die Welt nicht unter“ sowie „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n“ wurden zu musikalischen Durchhalteparolen. Denn wer wollte 1943 noch ernsthaft an den „Endsieg“ glauben?