Hamburg. Das Hamburger Theater Festival feiert einen großartigen Auftakt und beginnt mit einem unter die Haut gehenden Abend.

Eine Frau liegt auf einem Flügel. Nicht erotisch-lasziv wie Michelle Pfeiffer in „Die Fabelhaften Baker Boys“, sondern in Embryonalhaltung mit dem Rücken zum Publikum. Als die drei um sie gruppierten Musiker beginnen, Jean Sibelius’ „Valse triste“ zu spielen, fällt ein Lichtspot auf die Frau, sie setzt sich auf. In den nächsten 85 Minuten nimmt Johanna Wokalek die Rolle der französischen Schriftstellerin Marcelle Sauvageot ein, die vor 85 Jahren den Briefroman „Fast ganz die Deine“ geschrieben hat. Mit einem musikalisch-literarischen Programm über eine gescheiterte Liebe beginnt das Hamburger Theater Festival im Deutschen Schauspielhaus.

Wokalek, viele Jahre Mitglied im Ensemble des Wiener Burgtheaters, hat diesen Abend zusammen mit den drei Musikern des Wiener Merlin Ensembles konzipiert. Jetzt sitzt sie auf dem Flügel, das schmale Bändchen mit Sauvageots Essay in der Hand und neben sich einen Haufen Briefe. Briefe, die Sauvageots Geliebter an sie geschickt hat. Denn die Autorin ist auf Kur in einem Sanatorium in Tenay-Hauteville. Krank, voller Angst, allein. Und unsicher, ob sie noch geliebt wird.

Mit ihrer angenehm dunklen Stimme arbeitet sich Johanna Wokalek in 85 Minuten durch das kurze Leben der Sauvageot. Sie akzentuiert den Text und zeichnet die Entwicklung einer Frau, die sich aus ihrer Verzagtheit befreit und emanzipiert. Und das angesichts ihrer Tuberkulose und des drohenden Todes.

Sauvageots Geliebter sagt sich von ihr los. „Ich heirate ... unsere Freundschaft bleibt“, schreibt er. „Ich bin ganz still sitzen geblieben, und das Zimmer hat sich um mich gedreht. In meiner Seite, da, wo ich krank bin, vielleicht etwas tiefer, fühlt es sich an, als schneide man mir langsam mit einem sehr scharfen Messer ins Fleisch“, lautet die Reaktion auf die Botschaft. Wokalek spürt dem Schmerz nach, fasst sich an die Seite. Mehr und mehr gewinnt sie als Sprachrohr der Protagonistin Stärke zurück. Sie macht sich lustig über all die Frauen, die ihre Männer anhimmeln und befreit sich aus der emotionalen Abhängigkeit. Sie wollte Liebe, Freundschaft interessiert sie nicht.

Das Merlin Ensemble untermalt den seelischen Wandel der Briefeschreiberin, auch die Musik ändert sich. Der „Valse triste“ taucht als fortwährendes Motiv auf und symbolisiert das Auf und Ab in Sauvageots Befindlichkeit. Die Musik ist dramatisch, melancholisch und manchmal fröhlich wie bei Johannes Brahms’ „Oh die Frauen“.

Am Ende springt Wokalek vom Flügel und fängt an zu tanzen. Ein Galan bringt die euphorisierte Tänzerin zu ihrem Zimmer. Das Licht wird heruntergedimmt, Johanna Wokalek verschwindet in der Dunkelheit. Sie hat Marcelle Sauvageot zu einem Sieg verholfen. Das Publikum feiert sie und das Merlin Ensemble – und das Theater Festival beginnt mit einem unter die Haut gehenden Abend voller Leidenschaft und Rebellion, voller Schmerz, Trauer und Glück.