Lübeck. Der Pianist brillierte bei einem Konzert des Schleswig-Holstein Musik Festivals mit Tschaikowskys 1. Klavierkonzert.
Hatte Rolf Becks Nachfolger Christian Kuhnt die Länderschwerpunkte beim Schleswig-Holstein Musik Festival nicht abgeschafft und vorerst durch Komponisten-Schwerpunkte ersetzt? Das Konzert am Sonntag in der Musik- und Kongresshalle Lübeck wäre jedenfalls glatt als Eröffnung des Länderschwerpunkts Russland selig durchgegangen. Tschaikowskys 1. Klavierkonzert, ungemein beliebt vor allem wegen seiner triumphal perlenden Eingangstakte, stellte seine besondere Magnetkraft in den Dienst zweier weniger populärer Werke von Glinka und Rachmaninow, russischen Generationsnachbarn von Tschaikowsky – der eine 36 Jahre älter, der andere 33 jünger.
Was dem Konzert aber die größte Attraktivität sicherte, war der Name des Solisten: Daniil Trifonov. Nachdem der 2011 mit 20 Jahren beim Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau so ziemlich alle Preise gewann, die man da gewinnen kann, scheint kein Superlativ auszureichen, um den singulären Rang dieses Künstlers zu beschreiben. Tatsächlich spielte Trifonov das Tschaikowsky-Konzert mit derart tiefer Musikalität, so vollkommener Technik und fast wunderlicher Ökonomie der Bewegungen, dass man weder das Ohr noch den Blick von ihm wenden konnte.
Der eher schmächtige Musiker spielte manche Passagen mit dem Kopf so dicht an der Tastatur, dass Nasenspitze und Hände einander fast berührten. Abgesehen davon, dass man zu ahnen meint, welchen Bedarf an Physiotherapie dieser ausdauernd nach vorn eingebogene Rücken anmelden wird, wenn das sacht voranschreitende Alter dem Körper solche Extravaganz der Statik nicht mehr verzeiht: Sinnfälliger als in diesem Schneckenhaus aus Mensch und Instrument ließe sich die Symbiose von Musiker und Musik kaum inszenieren. Manche Arpeggien spielte Trifonov so glasklar wie ein Flamencogitarrist, manche romantische Melodie in der Rechten gestaltete er gestisch mit der Linken, als dirigiere er sich selbst. Bei ihm wirkt das nicht affektiert, sondern natürlich. Die Anforderungen des Stücks an den Virtuosen nahm Trifonov, dessen Finger mit staunenswert päpstlicher Unfehlbarkeit über die Tastatur sausen, mit inwendiger, gelassener Freude an. Je länger er spielte, desto häufiger kam ein wissendes Genießerlächeln über sein Gesicht. Den gewaltigen Jubel des Auditoriums nahm er mit entrückten Verbeugungen in alle Richtungen entgegen, breit lächelnd, aber ohne die Lippen zu öffnen. Eine Erscheinung, in jeder Hinsicht.
Nach der Pause führte der Dirigent Vladimir Jurowski – Russe auch er – sein bis zur Schroffheit akzentfreudig aufspielendes London Philharmonic Orchestra durch Rachmaninows Sinfonie Nr. 1, ein schwarzes Biest, das Rache, Zorn und Verdammnis speit, mit viel tiefem Blech, düster flirrenden Streichern, unheilvollen Holzbläsermelodien und gewaltig schepperndem Schlagwerk. Vor allem der zweite Satz klingt nach einem tollen Vampirfilm, der erst noch gedreht werden muss.