Lübeck. Das NDR Sinfonieorchester unter Thomas Hengelbrock und Piotr Anderszewski eröffnete in Lübeck das Schleswig-Holstein Musik Festival.

Pauken und Trompeten waren selbstverständlich beteiligt beim Voreröffnungskonzert des Schleswig-Holstein Musik Festivals am Sonnabend in der Musik- und Kongresshalle Lübeck. Aber wer bei einer Festivaleröffnung auch eine musikalisch festliche, ausgelassene Stimmung erwartet, mit Paukenschall und Trompetengeschmetter und dem ganzen Ballyhoo der Klassik seit Urzeiten, der sah sich diesmal enttäuscht – aufs (hoffentlich) Angenehmste.

Denn anstatt fröhlichen, prunkvollen Lärm zu veranstalten, versenkte sich Thomas Hengelbrock mit dem NDR Sinfonieorchester und Piotr Anderszewski nach der kurzen, fast wie ein Traumbild vorüberziehenden Ouvertüre zu „La clemenza di Tito“ von Mozart sogleich in eine wunderbar subtile Darbietung von dessen Klavierkonzert c-Moll KV 491. Wie schon in der Ouvertüre blieb auch hier so etwas wie der nachklingende Geist eines zeitgenössisch verstandenen Barock spürbar. Ohne die emotionalen Affekte zu übertreiben, ließ Hengelbrock ihnen doch genügend Atemraum, sodass die Musik ein eigenartiges Schattenlicht verströmte, wie ein in dunklen Farben gehaltenes Aquarell. Die kleine Besetzung mit zwei Kontrabässen sorgte für einen kammermusikalisch durchhörbaren Orchesterklang, und im Wechselspiel mit den Klavierpassagen, die Anderszewski mit unnachahmlich feinem Anschlag spielte, ergab sich ein Dialogisieren zwischen Solo und Tutti auf höchstem, weil gleichwertigem Niveau.

Kleine Patzer im letzten Satz

Dabei agierte der Pianist in der vollen Bandbreite der Dynamik und durchaus auch auf Risiko, was im letzten Satz zu einigen kleinen Patzern führte. Aber was stört ein falsch greifender Finger, wenn der Geist seines Besitzers sich davon in seinem luziden Schweben nicht beirren lässt? Ander­szewski öffnet sich als Mozart-Interpret zu einer Intimität, die man phänomenal nennen würde, erschiene das Wort in dem Zusammenhang nicht so tumb. Das alte Diktum, Mozart sei für Kinder zu leicht und für Erwachsene zu schwer, widerlegt dieser Pianist auf das Zarteste. „Sempre semplice“, so scheint die innere Vortragsbezeichnung von Piotr Anderszewski zu lauten. Sein Ton ist manchmal geradezu erschütternd schlicht und geradezu unwahrscheinlich leise, dabei aber von einer Tiefe, die einem halt doch erst als Erwachsenem zuwächst.

Fast mehr noch als im regulären Konzert wurde dies in der schließlich zugestandenen Zugabe deutlich, die der Meister nicht allein geben wollte. Sie bestand aus dem Andante des Klavierkonzerts A-Dur KV 414, das Ander­szewski und Hengelbrock offenbar ebenso gut vorbereitet hatten. Sollte das Publikum auf Unterhaltsameres aus gewesen sein, hatte es dies spätestens jetzt vergessen; auffallend lautlos gab es sich dem Genuss an den leisen, nachgebenden Verzögerungen hin, diesem intimen, fast erotisch anmutenden Spiel der Töne, das Anderszewski mit lebhafter Mimik mitvollzog.

Brahms modern, aber nicht bilderstürmerisch

Erst als er so leise spielte, dass man ihn hinten im Saal womöglich wirklich kaum mehr hören konnte, erinnerten sich manche im Publikum ihrer Atmungsorgane. Dennoch war so etwas wie die kostbare Süße einer gemeinsamen Meditation im Raum. Anderszewski, so schien es, begreift seinen Beruf als Dienst an der Stille; als müsste jeder Ton, der diese Stille zwangsläufig stört, sich ihrer würdig erweisen.

Die Sinfonie Nr. 2 D-Dur von Brahms danach hätte ein irdischeres, deftigeres Hörvergnügen sein können. Doch auch hier hielt Hengelbrock das Schwelgerische im Zaum, ohne an Klangsinn und Plastizität zu sparen. Das Orchester gab hinsichtlich des Zusammenspiels sowie der Qualität der einzelnen Musiker eine weitere, diskrete Glanzvorstellung; voller Prägnanz und Nachgiebigkeit in den Linien, gewichtig ohne Schwerfälligkeit. Brahms modern, aber nicht bilderstürmerisch.

Als verschwiegenes Programm des Eröffnungskonzerts war Peter Tschaikowsky, die kompositorische Zentralsonne dieser Festivalausgabe, schon sehr präsent, auch ohne dass Musik von ihm erklang. Keinen liebte und verehrte Tschaikowsky mehr als Mozart, keinen fand er überschätzter und nerviger als Brahms. Wenn dramaturgische Pointen wie diese und das Bekenntnis zur Intimität prägend bleiben sollten für diese Ausgabe des SHMF, dann darf sich der Norden auf ausgesprochen erhellende Festivalwochen freuen.