Hamburg. Gemeinsam mit seiner Band präsentiert der hörgeschädigte Gitarrist Mischa Gohlke den Inklusionssong „Anderssein vereint“.
Mit dem Blues spüre er eine Seelenverwandtschaft, erzählt Mischa Gohlke. Diese dunklen Schwingungen, die Gitarre und Stimme erzeugen, die berührten ihn tief. Und wenn der Musiker sich an die Brust fasst, während er von seiner Leidenschaft erzählt, wirkt das keineswegs pathetisch. Vielmehr zeigt die Geste, dass da einer durch und durch ergriffen ist von einem Sound, von der Liebe zum Klang.
Im Fall von Mischa Gohlke mag seine Faszination für Musik ungewöhnlich erscheinen, denn der 34-Jährige ist an Taubheit grenzend hörgeschädigt. Doch all die Stereotype – etwa, dass ein Gitarrist ein überragendes Gehör haben müsse – löst Gohlke im Gespräch charmant in Wohlgefallen auf, indem er schlichtweg aus einem anderen Winkel auf die Welt schaut.
„Auch über ein kaputtes Ohr kann ich Musik im Hirn erschaffen“, sagt Gohlke, der sich 50 bis 60 Prozent der Außengeräusche, Töne und Worte über Hörgeräte erschließt. Hinzu kommen andere Sinne und Techniken wie etwa Lippenlesen. Gohlke kann sehr reflektiert, auch entspannt davon erzählen, wie sich Menschen ihre eigene Wahrnehmung schaffen. An Tagen, an denen er sich als Opfer fühle und sich in diese Rolle fallen lasse, habe er auch „eine schlechtere Hör-Realität“. Wie gut er höre, habe viel mit Loslassen zu tun. Und damit, Dinge immer wieder infrage zu stellen, sie stets neu zu bewerten.
„Was heißt schon behindert? Ist eine Behinderung immer körperlich? Was ist etwa mit all den mentalen Behinderungen – zum Beispiel wenn ein Kind Gewalt erfährt und das dann mit sich herumträgt?“, fragt Gohlke, ein Typ mit wuscheliger Frisur und Schmunzeln im Gesicht. Was nicht heißt, dass er nicht sehr klug und ernsthaft über Inklusion, eines seiner Herzensthemen, sprechen kann. Und wenn er das tut, reden nämlich, zum Beispiel bei Konferenzen und auf Podiumsdiskussionen, dann macht er zum Auflockern gerne einen Witz über das S und Sch, das er etwas nuschelig ausspricht. Gohlke erzählt dann, dass er weder aus Skandinavien noch aus Holland komme. Und auch nicht betrunken sei.
Er ist einer, der die Barrieren in den Köpfen abbauen will. Im Oktober 2011 hat er die Initiative „Grenzen sind relativ“ gegründet, die unter anderem Musikunterricht für Hörgeschädigte sowie eigene Festivals organisiert. Hinter „Grenzen sind relativ“ steckt die Philosophie, dass nicht nur als behindert definierte Menschen, sondern letztlich alle mit gewissen Einschränkungen leben. Sei es auf emotionaler, sozialer oder finanzieller Ebene.
Um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie komplex und vielfältig unser Miteinander ist, hat Gohlke gemeinsam mit der Sängerin Katrin Wulff und seiner Band nun die Pop-Nummer „Anderssein vereint“ als „Inklusionssong für Deutschland“ veröffentlicht. Ihre Toleranz-Hymne präsentieren sie mit Gästen heute Abend bei einem Festival im Knust. Das Video zu „Anderssein vereint“ wiederum entstand im Kraftwerk Bille sowie im Planetarium mit 80 singenden, rappenden, musizierenden und tanzenden Protagonisten – von Orange Blue-Sänger Volkan Baydar bis zum Gebärdenchor „Hands up“.
Mit zur Band gehört auch Gohlkes Vater Hörbie Schmidt, der ebenfalls Gitarrist ist. Und der Gohlke als Teenager Mentor in Sachen Musik war, ihm die erste Gitarre und den ersten Verstärker besorgte, der ihm Kniffe und Griffe zeigte. „Mit 15 habe ich eine Platte von Stevie Ray Vaughan gehört und war von da an erstmal ein paar Jahre auf der Bluesrock-Schiene“, erzählt Gohlke, der in Schleswig-Holstein auf dem Dorf aufwuchs und nach dem Abitur nach Hamburg kam. „Mit meiner Blues-Fixierung habe ich bestimmt auch viele genervt.“ Mit den Jahren sei er dann offener geworden. Für Pop, Jazz, Funk und Experimentelles. Die Musik ist für Gohlke ein gutes Beispiel, wie Grenzen funktionieren und abgebaut werden können. „Wenn ich keinen Zugang zu einem bestimmten Song finde, muss der nicht zwangsläufig schlecht sein, sondern das kann eben auch an meiner eigenen Begrenztheit liegen“, sagt er, tippt sich an die Stirn und lacht.
Zu seinem Ideal einer ganzheitlich gelebten Inklusion gehört ebenfalls der Ort, an dem er mit seiner Band probt. Und an den er zum Interview geladen hat. Das Gebäude einer ehemaligen Lokleitstelle in der Nähe des Bahnhofs Stellingen beherbergt seit drei Jahren die „Kreativwerkstadt Hamburg“. Auf 700 Quadratmetern versammelt dessen Gestalter Kai Schulz mehr als 300 Menschen, die künstlerisch aktiv sind.
„Wir hatten hier schon Profi-Musiker wie Nico Suave und Johannes Oerding, aber auch 16-Jährige mit einer Stimme wie Alicia Keys“, erzählt Schulz. Auch der Verein Lukulule, der Workshops von Songwriting bis Hip-Hop anbietet, fand ein neues Zuhause in Stellingen, nachdem die Miete im Schanzenviertel zu teuer geworden war. Das Haus ist nach dem Genossenschaftsprinzip organisiert. Wobei Schulz betont: „Der Jazz-Student bezahlt weniger als der Firmenvorstand. Das ist für mich gelebte Inklusion.“
Wer mit Menschen wie Schulz und Gohlke spricht, spürt eine Offenheit, die weit entfernt ist von einem Gutmenschentum, das lediglich das Gewissen beruhigen soll. Gohlke möchte mit seinem Inklusionssong „einen kleinen Hype“ auslösen. Das Know-how dafür hat er jedenfalls, hat er als diplomierter Kultur- und Medienmanager doch mit migo connections bereits seine eigene Veranstaltungsagentur gegründet. Sein oberstes Ziel: Impulse freisetzen statt kleingeistige Lobby-Diskussionen zu führen. Er mag zwar weniger hören als vermeintlich normale Menschen. Aber verstehen tut er eine ganze Menge.
„Anderssein vereint“-Festival Do 25.6., 19.30, Knust, 8 (Vvk.), 10 Euro (Ak.); grenzensindrelativ.de