Hamburg. Am Sonntag eröffnet eine Neufassung von John Neumeiers „Peer Gynt“ die 41. Ballett-Tage. Aufführung trägt Neumeiers Signatur.

Karl Valentins gern zitiertes Bonmot „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“ benennt eine Wahrheit, die man leicht übersieht. Denn die meiste Arbeit in der Kunst wird oft darauf verwendet, alle Spuren, die nach der Arbeit aussehen, die sie macht, so gründlich zu tilgen, bis nur noch das Schöne übrig bleibt. Das gilt in besonderem Maß für die Bühnenkunst des Balletts. Was sich da in reiner Schönheit präsentiert – schwerelos, anmutig, frei von aller sichtbaren Anstrengung –, ist, klar, nur möglich, weil dort unendlich arbeitsame Tänzer am Werk sind, die Tag für Tag viele Stunden lang ihr präzis ausgebildetes Körperwerkzeug in Schuss halten.

In einem Handlungsballett wie John Neumeiers „Peer Gynt“, in dem eine Art von Geschichte erzählt wird, steckt allerdings mindestens genauso viel gedankliche und emotionale wie rein physische und musikalische Arbeit. Welche Bewegungen charakterisieren eine Figur? Wie gestaltet sich die Beziehung zwischen den Charakteren? Was ist plausibel, welche Neigung des Kopfes stimmt in diesem Moment, welche ist verkehrt? Alles, was man am Ende in der Aufführung wie beiläufig wahrnimmt, ist das Ergebnis von Entscheidungen. John Neumeier, der Chef des Hamburg Balletts, fällt diese Entscheidungen in einer faszinierenden Mischung aus Absicht und Intuition, aus Plan und Moment, aus Bestimmtheit und Offenheit. Es ist eine Arbeit, die ohne die kreative Mitwirkung der Tänzer nicht möglich wäre. Und doch trägt sie unverwechselbar seine Signatur.

„Es dauert Stunden, ehe Sie etwas sehen“, sagt John Neumeier entschuldigend dem Reporter im Nijinsky-Saal des Ballettzentrums während einer Probe mit den Solisten Alina Cojocaru und Carsten Jung für die Neueinstudierung seines „Peer Gynt“. Das stimmt natürlich nicht, denn es gibt gerade in der Verlangsamung des Probenprozesses sehr viel zu sehen, nur eben wie unter einem starken Vergrößerungsglas.

Cojocaru, sie tanzt die Solveig, sitzt auf der Lehne eines Stuhls, eine Tasche mit Habseligkeiten auf dem Schoß. „Ich mag, wie die Sachen aus deiner Tasche heraushängen“, sagt Neumeier, und man denkt sofort: stimmt. Das Achtlose im Arrangement dieser Habseligkeiten sagt alles über die Entschiedenheit und Plötzlichkeit von Solveigs Aufbruch. „Sitz so, dass aus deiner Haltung deutlich wird: ich will bleiben.“ Cojocaru verändert ihre Haltung minimal, aber entscheidend. Carsten Jung, der die Titelrolle des Peer Gynt tanzt, soll sich ihr nähern, denn sie ist in sein Haus gekommen. „Bleib länger bei ihr, wenn du zu ihr gehst. Schaut euch an. Und nimm nie den geraden Weg. Peer ist immer krumme Wege gegangen.“

John Neumeier sieht die ganze Geschichte in jedem einzelnen Bild

Jung probiert Varianten eines krummen, doch zielstrebigen Wegs. Bei ihr angekommen, steigt sie in seine gefalteten Hände und wird von ihm ins (imaginäre) Haus getragen. Immer wieder unterbricht Neumeier diesen Gang. Er sucht nach den richtigen Worten, seine Gedanken und Empfindungen bahnen sich langsam, oft stockend ihren Weg in die Sprache. Er ist ganz Aufmerksamkeit, vollkommen durchlässig für das, was er sieht, aber zugleich unbestechlich in seiner Wahrnehmung. Er sieht die ganze Figur, die ganze Geschichte in jedem einzelnen Bild des Geschehens, wozu auch das Kostüm gehört. Schließlich hat er das Detail gefunden, das noch nicht stimmte. Cojocarus Füße müssen in die Richtung zeigen, in die Peer sie tragen soll. Später sagt er: „Für mich ist die Form untrennbar vom emotionalen Inhalt. Man übt nicht, Technik mit Emotion zu füllen, sondern die emotionale Struktur zusammen mit der Form zu entwickeln. Das ist sehr langwierig.“

John Neumeier, (r.), bei einer „Peer
Gynt“Probe
John Neumeier, (r.), bei einer „Peer Gynt“Probe © Holger Badekow

Die Musik, die Alfred Schnittke für Neumeiers „Peer Gynt“ schrieb, kommt im Probensaal vom Band. Neben Neumeier sitzen sein Stellvertreter Lloyd Riggins und Sonja Tinnes, die Choreologin des Hamburg Balletts. Sie notiert Schrittfolgen und gleicht aus einem dickleibigen Buch ab, welche Bewegungen in der ursprünglichen Fassung des Stücks festgehalten wurden.

Doch wenn Neumeier am kommenden Sonntag mit „Peer Gynt“ die 41. Hamburger Ballett-Tage eröffnet, dann präsentiert er gefühlt keine Wiederaufnahme, sondern eine nagelneue Choreografie. Das Stück ist zwar 26 Jahre alt und erlebte 2003 eine Wiederaufnahme. Aber Neumeier glaubt, es inzwischen viel besser choreografieren zu können, auch, weil er die Figur der Solveig inzwischen ganz anders deutet. „Ich habe sie damals als Anima von Peer gesehen, als einen Aspekt von ihm. Aber Solveig ist eine völlig eigenständige, sehr starke Frau, die sich entscheidet, zu Peer zu gehen, zu diesem Outlaw. Selbst ihr Warten hat für mich etwas Aktives. Man kann Ibsens Text sentimental finden, aber ich glaube einfach, was diese Frau zu Peer sagt: ‚Du hast aus meinem Leben ein Lied gemacht.’“

Im Nijinsky-Saal tauchen lautlos zwei weitere Tänzerinnen auf: Emilie Mazon, die Tochter von Gigi Hyatt, die bei der Uraufführung 1989 die Solveig tanzte, und Janusz Mazon, ehemals Erster Solist des Hamburg Balletts, und Anne Laudere. Im Hintergrund tanzt Emilie Mazon manche Figuren von Alina Cojocaru nach wie ihr kleiner Schatten. Auch Laudere, die Peers Mutter Aase verkörpert, wechselt zwischen Zuschauen und Tanzen. Man spürt als Beobachter, wie sehr diese Kunst von der persönlichen Weitergabe ihrer Protagonisten lebt.

Nach der Probe scharen sich die drei Tänzerinnen um Neumeier, der kaum die Tränen zurückhalten mag, als er ihnen seine Sicht auf den Gefühlshaushalt der Figuren erläutert. Er berichtet auch von der Arbeit mit Alfred Schnittke, die bis ins Jahr 1981 zurückreicht. Der Komponist erlitt während der Komposition einen Hirnschlag und konnte den letzten Teil erst spät fertigstellen. Eigentlich sollte ihre Arbeit mit Hermann Hesses Roman „Narziss und Goldmund“ noch eine Fortsetzung finden. „Er wäre dafür ideal gewesen“, erzählt Neumeier. Aber es kam nicht mehr dazu. Bei ihrer letzten Begegnung habe Schnittke im Rollstuhl gesessen und nicht mehr sprechen können. „Plötzlich wurde er unruhig und rollte in einen Nebenraum. Als er zurückkam, hatte er ein Exemplar von ‚Narziss und Goldmund‘ in der Hand. Das ist mein letztes Bild von ihm.“

Zur Sommerzeit zieht die Klassik aufs Land. Schleswig-Holstein Musik Festival oder Festspiele Mecklenburg-Vorpommern gehören längst zum Inventar, in Ostfriesland ist seit 2012 ein neues Festival am Start. Matthias Kirschnereit, Konzertpianist und Professor an der Rostocker Musikhochschule, versammelt für die „Gezeiten Konzerte“ schon zum vierten Mal eine höchstkarätige Riege von Künstlern. Bis zum 9. August läuft das Festival, unter den Interpreten sind die Pianisten Maria João Pires und Grigory Sokolov, der Cellist Daniel Müller-Schott und der Oboist Albrecht Mayer. Die Programmgestaltung ist vom Feinsten, sie reicht von der szenischen Rezitation über ein Porträtkonzert und Jazzabende bis zum Sinfoniekonzert. Jedem Abend geht ein Themen-„Streifzug“ in die Umgebung voraus.

So mancher Veranstaltungsort dürfte nur Kennern etwas sagen. Aurich, Emden, Leer, okay – aber waren Sie schon mal in Krummhörn-Groothusen, Sengwarden oder Bunderhee? Das Festival bringt nicht nur bürgerliche Konzertsäle und Kleinodien von Kirchen zum Klingen. Das Volkswagenwerk öffnet seine Pforten, Bibliotheken, Gutshäuser und ein Pferdegestüt. „Bei uns hat das Publikum die Künstler zum Anfassen nah“, schwärmt Kirsch­nereit, und bei der offenkundigen Qualität und dramaturgischen Frische kann man ihm die Begeisterung für das eigene Projekt nicht verdenken.

Erschwinglich ist das Ganze auch: Die teuersten Karten kosten gerade mal 40 Euro, Schüler und Studenten bekommen Tickets für 5 Euro.

Gezeiten Konzerte bis 9.8. Infos unter www.ostfriesischelandschaft.de/gezeitenkonzerte