Am Sonnabend startet die 13. Documenta. Ein Interview mit den Kuratorinnen Brigitte Kölle und Petra Roettig von der Galerie der Gegenwart.
Hamburg. Wenn über das Wahlrecht für Erdbeeren diskutiert wird und Hunde durch Ausstellungen führen, dann ist: Documenta. Am 9. Juni wird die Documenta 13, eine Positionsbestimmung zur Gegenwartskunst, in Kassel offiziell eröffnet. Deren Leiterin, die Amerikanerin Carolyn Christov-Bakargiev, sorgte schon vorher mit kuriosen Ideen für ordentlich Aufmerksamkeit. Ein Gespräch mit Brigitte Kölle und Petra Roettig, den Kuratorinnen der Hamburger Galerie der Gegenwart, über die Relevanz der Documenta und die Notwendigkeit der Provokation.
Hamburger Abendblatt: Mit welchen Erwartungen fahren Sie nach Kassel?
Brigitte Kölle: Wie immer habe ich hohe Erwartungen an die Documenta, auch wenn die Gefahr dann größer ist, enttäuscht zu werden. Ich hoffe, Unbekanntes zu entdecken.
Es gibt Kunstmessen wie die Art Basel Miami, es gibt die Biennale in Venedig. Welchen Stellenwert hat die Documenta?
Petra Roettig: Die Documenta ist spannender als jede Kunstmesse, denn hier geht es wirklich um Neues. Für mich ist die Documenta noch interessanter und wichtiger als die Biennale.
Kölle: Außerdem ist es ein wesentlicher Unterschied, ob es sich um eine kommerzielle Veranstaltung wie eine Messe handelt oder eben um eine Ausstellung, die von einem Kurator konzipiert ist.
Wie haben Sie die Documenta-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev erlebt?
Kölle: Als unglaublich energievolle Person, die sehr assoziativ denkt. Sie legt sich nicht gern fest, ist manchmal auch kryptisch, trotzdem finde ich sie hochinteressant. Ich habe den Eindruck, dass diese Frau sehr eigenwillig denkt, ohne vorgefasste Theorien.
Jedenfalls hat sie einen sehr weit gefassten Kunstbegriff erkennen lassen. Was halten Sie davon, wenn Christov-Bakargiev meint, es gebe keinen fundamentalen Unterschied zwischen tierischen Erzeugnissen und menschlicher Kunst?
Roettig: Man fragt sich, warum sie das so formuliert. Das ist schon irritierend.
Kölle: Ihr geht es darum, neue Ansätze des Denkens zu finden. Wir tun doch immer gern so, als wüssten wir alles. Das möchte sie hinterfragen. Manche ihrer Thesen erscheinen zunächst absurd, trotzdem ist es interessant, über scheinbare Grenzen des Möglichen oder der Disziplinen hinaus zu denken, was sie ja tut, wenn sie etwa Quantenphysiker zur Documenta mit einlädt.
Sie hat ein Wahlrecht für Erdbeeren gefordert. Können Sie nachvollziehen, dass das in der Öffentlichkeit mit Kopfschütteln registriert wird?
Roettig: Das ist natürlich eine Provokation. Im Vorfeld der Documenta werden immer wahnsinnige Geschichten kolportiert.
Wie wichtig sind Provokationen für eine Institution wie die Documenta?
Kölle: Natürlich regen sich Menschen auf und schütteln den Kopf. Aber Provokationen stoßen Debatten an und wecken Interesse. Eine Documenta ist immer auch eine Inszenierung, und der künstlerische Leiter muss sich inszenieren. Das ist Teil des Geschäfts.
Auf der Documenta wird es diesmal Multispezies-Führungen geben. Das heißt, Hunde führen durch die Ausstellungen. Werden Sie das ausprobieren?
Roettig: Ich weiß nicht, ob ich das tatsächlich mache. Aber warum nicht? Eine Offenheit für scheinbar Obskures gehört nun einmal zur Documenta.
Auf dem offiziellen, sehr puristischem Plakat steht: "documenta - eine Kunstausstellung in Kassel". Trotzdem fühlt sich Frau Christov-Bakargiev von einer zeitgleich in Kassel stattfindenden Stephan-Balkenhol-Ausstellung gestört. Können Sie das nachvollziehen?
Kölle: Das kann ich teilweise nachvollziehen. Schließlich ist die Skulptur von Balkenhol direkt am Friedrichsplatz, dem Herzstück der Documenta, platziert. Andererseits muss man natürlich fragen, wo dann die Toleranz bleibt.
Auch Gregor Schneider, den Sie gerade in Ihrer Ausstellung "Lost Places" zeigen , ist sauer, weil eine eigentlich in Kassel geplante Ausstellung auf Druck der Documenta abgesagt wurde.
Kölle: Das ist übertrieben, das geht nicht. Man muss akzeptieren, dass es gleichzeitig auch anderes gibt. Eine Documenta muss auch mit den fest installierten Arbeiten der Vorgänger leben.
Die Documenta rückt aktuelle Kunst 100 Tage lang sehr stark in den Fokus der Öffentlichkeit. Profitiert ein Haus wie die Galerie der Gegenwart davon?
Roettig: Das ist eine absolute Belebung der zeitgenössischen Kunst und für uns natürlich eine große Chance, zum Beispiel auch für die aktuelle Ausstellung "Lost Places" ein internationales Publikum zu gewinnen.
Welche Documenta-Werke aus früheren Zeiten sind in der Kunsthalle zu sehen?
Roettig: Auf der Documenta IX 1992 war der damalige Direktor der Kunsthalle, Uwe Schneede, von Bruce Naumanns Video-Installation "Anthro/Socio" so beeindruckt, dass er sich sofort dafür eingesetzt hat, sie zu kaufen. Jetzt gehört sie zu unserer Sammlung. Aktuell haben wir in "Lost Places" mit Thomas Ruffs Zyklus "Nacht" nicht nur Werke von der Documenta IX, sondern mit Omer Fast sogar einen Teilnehmer der aktuellen Documenta.
Haben Sie die Chance, ein Werk, das Sie in Kassel vielleicht besonders überzeugt und begeistert, für die Galerie der Gegenwart zu erwerben?
Kölle: Wir fahren leider nicht mit Taschen voller Geld nach Kassel, aber das heißt nicht, dass wir keine Chancen haben, unsere Sammlung zu erweitern. Vielleicht können ja wir jemanden begeistern, etwas für die Galerie der Gegenwart zu erwerben.
Was würden Sie Kunstinteressierten, die in den nächsten Wochen nach Kassel fahren, für einen Rat mit auf den Weg geben?
Roettig: Er sollte neugierig und offen sein.
Kölle: Und unbedingt bequeme Schuhe tragen.
Die Documenta 13 läuft vom 9. Juni bis 16. September in Kassel. Etwa 100 internationale Künstler präsentierten unter dem Motto "Collapse and Recovery" ("Zusammenbruch und Wiederaufbau") ihre Werk an unterschiedlichen Orten. Infos unter http://d13.documenta.de/