Bestsellerautor Christian Saehrendt meint jedoch: Gerade weil Kassel weder eine Metropole ist noch eine Schönheit, ist die documenta dort goldrichtig.

Kassel. Als gebürtiger Kasselaner und bekennender Lokalpatriot hat Kunstbuchautor Christian Saehrendt für das ewige Naserümpfen auswärtiger documenta-Besucher wenig Verständnis. Kassel, so argumentiert er, ist gerade aufgrund seiner etwas spröden Ausstrahlung bestens als Standort für die Kunstausstellung geeignet. In seinem neuesten Buch (Ist das Kunst oder kann das weg? Kassel. documenta-Geschichten, Märchen und Mythen, DuMont, 239 Seiten, 16,95 Euro) beschäftigt sich Christian Saehrendt ausführlich mit Kassel und der documenta.

Herr Saehrendt, warum findet die documenta in Kassel statt?

Christian Saehrendt: „Da muss ich kurz die Geschichte referieren. Es gab nach dem Krieg einen Wettkampf um den westdeutschen Regierungssitz zwischen Bonn, Stuttgart, Frankfurt und Kassel.“

Mit welchem Argument sollte die Regierung denn nach Kassel?

Saehrendt: „Das Hauptargument lag darin, dass es ein Provisorium war. Hätte man die Hauptstadt nach Frankfurt verlegt, in die alte Reichsstadt, hätte man damit signalisiert, dass man sich mit der deutschen Teilung abfindet.“

Aber Kassel hat verloren.

Saehrendt: „Ja, und als Kompensation hat Kassel zwei Bundesbehörden bekommen – zwei Gerichte – und die Zusage für die Bundesgartenschau 1955. Und das Begleitprogramm zur Bundesgartenschau war die documenta. Verkürzt könnte man sagen: Die documenta ist der Trostpreis dafür, dass Kassel nicht Bonn wurde.“

Seitdem hat sich die Kunstwelt immer wieder wenig schmeichelhaft über Kassel geäußert.

Saehrendt: „Zu jeder documenta gibt es große Aufregung darüber, warum es ausgerechnet in dieser hässlichen Stadt stattfinden soll. Einmal steht die Hässlichkeit im Vordergrund und dann das Provinzielle. Das schlimmste Zitat fand ich: Der deutsch-amerikanische Kunstkritiker Benjamin Buchloh sagte: „Kassel ist eine der hässlichsten Städte westlich Sibiriens. Die Fadheit der Architektur wird nur noch übertroffen von der Fadheit der Bewohner.“ Und auch jetzt wieder: Die amtierende documenta-Chefin, die ja aus den USA stammt, die sagte, Kassel sei für sie so etwas wie das ultimative Vakuum.“

Was empfinden Sie da als gebürtiger Kasselaner?

Saehrendt: „Das ist natürlich extrem arrogant.“

Ist Kassel denn wirklich so schlimm?

Saehrendt: „Ich finde, Kassel ist gar nicht mal so mega-hässlich. Meiner Meinung nach ist es so, dass die Leute nach Kassel kommen, und die Wahrnehmungskanäle sind weit geöffnet. Sie erwarten ein außerordentliches Kunstereignis, und dann steigen sie in Kassel aus, und es sieht dort aus wie in Oberhausen oder Rotterdam, nur nicht nach was Besonderem. Und deswegen kommt ihnen Kassel doppelt hässlich vor.“

Ist es für die Kunst eher gut oder eher schlecht, dass Kassel keine Schönheit ist?

Saehrendt: „Für die Kunst ist es gut. Die zeitgenössische Kunst braucht ja praktisch einen neutralen Umraum. Ein modernes Kunstwerk passt nicht in einen schweren Goldrahmen oder in ein historisches Schloss. Man braucht den neutralen Galerieraum oder ein bisschen triste Umgebung, was Ödes, Langweiliges – umso mehr strahlen dann die Kunstwerke.“

Sie meinen: In Venedig zum Beispiel gibt es eigentlich viel schönere Dinge zu sehen als zeitgenössische Kunst.

Saehrendt: „Genau, Kassel bietet relativ wenig Ablenkung, man kann sich besser auf die Kunst konzentrieren. Außerdem ist das Thema Hässlichkeit in der modernen Kunst auch sehr wichtig. Eine heruntergekommene Umgebung, sagen wir mal mit sozialen Problemen und einer Geschichte, ist für die moderne Kunst viel interessanter als eine heile Welt.“

Wie ist denn die Haltung der Kasselaner zur documenta?

Saehrendt: „Die hat sich geändert. Am Anfang war die documenta ja praktisch eine elitäre Veranstaltung, und jetzt ist es so: Die Besucherzahlen sind immer größer geworden, aber auch der Anteil der Kasseler Besucher wächst. Bei der letzten documenta waren es 14 Prozent von einer Dreiviertelmillion. Das ist gar nicht mal so schlecht für eine Stadt, die nur 200 000 Einwohner hat. Man kann schon sagen: Auch der nicht kunstbegeisterte Normalbürger geht zumindest mal hin und schaut sich das an, und diese offene Aversion, dieses Gemotze und Gepöbel, das hat alles abgenommen.“