Kassel kennen viele nur von den Staumeldungen. Alle fünf Jahre blüht die Stadt auf - zur Kunstausstellung. Dabei hat sie auch sonst einiges zu bieten.

Kassel. Die blechernen Lautsprecheransagen bleiben ungehört, Augenpaare suchen und finden sich, Menschen laufen lächelnd aufeinander zu und fallen sich in die Arme. Solche Szenen gibt es wohl an jedem Bahnhof. In Kassel-Wilhelmshöhe allerdings seltener als anderswo. Denn in Kassel kommen die meisten nicht an, sie steigen nur um. So wie eine Reisende, die häufig nach Marburg fährt und in Kassel den Zug wechselt. „Viel mehr als den Bahnhof kenne ich nicht“, sagt sie. Schade eigentlich, denn Kassel ist schöner als sein Ruf. Das werden sicher auch viele der hunderttausende Menschen merken, die vom 9. Juni an zur weltweit wichtigsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst, zur documenta, nach Kassel reisen.

Regine Heß und Sabine Schmidt aus Bad Sobernheim in Rheinland-Pfalz haben für einen Wochenend-Trip die Wohnung von Schmidts Sohn übernommen, der im hessischen Kassel lebt. Nun erkunden sie die Universitätsstadt, in der auch rund 20 000 Studenten leben. Im Ohr haben sie noch die hämischen Sprüche ihrer Männer: „Und du fährst wirklich nach Kassel?“ Der allererste Eindruck: „Es ist sehr weitläufig“, sagt Heß.

Vom Fridericianum, einem der ersten öffentlichen Museen auf dem europäischen Festland, geht es in die Karlsaue, das „Naherholungsgebiet“ der Kasseler mitten in der Stadt. Keine zehn Minuten braucht man dafür durch die Fußgängerzone – keine Autos, kein Lärm, keine Hektik. „Ich bin erstaunt, dass man so schnell im Grünen ist“, sagt Schmidt. Vor der Orangerie ist eine riesige Rasenfläche, auf der sich junge Menschen sonnen, Radfahrer umrunden die Anlage, Spaziergänger rasten auf einer der weißen Bänke. Im Park sind auch einige Hütten für documenta-Kunst aufgestellt.

Beeindruckend finden die beiden die sechs Kilometer lange, schnurgerade Wilhelmshöher Allee, die direkt auf das Schloss Wilhelmshöhe zuläuft. „Das ist ganz toll mit dem Blick auf den Herkules“, sagt Schmidt. Die riesige Herkules-Statue, das Wahrzeichen der Stadt Kassel, ist ein Touristenmagnet und thront oberhalb des Schlosses. Nicht nur der Herkules sei einen Blick wert, auch der Blick vom Herkules auf die Stadt mit ihren knapp 200 000 Einwohnern, sagen die beiden Frauen.

Im Schloss sind einige der Kunstschätze Kassels untergebracht. „Dazu gehört die Gemäldegalerie Alte Meister, die zu den bedeutendsten ihrer Art zählt“, betont Judith Reitter von der Museumslandschaft Hessen Kassel (MHK). Der Höhepunkt: die niederländische Kunst mit Meisterwerken von Rembrandt, Rubens oder van Dyck. Zwölf Werke Rembrandts besitzt das Museum – eine der bedeutendsten Sammlungen des Künstlers weltweit.

Zur MHK gehört auch der Bergpark Wilhelmshöhe mit dem Herkules und den Wasserkaskaden. Das Gebiet um das Schloss gilt als einer der größten Bergparks Europas. Momentan läuft die Bewerbung zum Weltkulturerbe bei der Unesco. Die Jahrhunderte alten Wasserspiele, die nur durch Wasserkraft in einer 50 Meter hohen Fontäne enden und die Besuchermassen anziehen, sind einzigartig, betont Reitter. 2013 könnte die Unesco entscheiden, sie in ihre Liste des Weltkulturerbes aufzunehmen.

Heß und Schmidt haben für ihren Stadtbummel leichte Kleidung gewählt, denn sie haben Glück: An diesem Tag zeigt sich Kassel von seiner sonnigen Seite. In Kassel ist es im Sommer im langjährigen Mittel kälter als in Hamburg und in München, weiß der Deutsche Wetterdienst (DWD). Die Sonne scheint meist seltener, aber es gibt auch weniger Regen. „Kassel ist so mittelprächtig“, konstatiert DWD-Meteorologe Gerhard Müller-Westermeier. Und wie wird’s zur documenta, die im September endet? „Man kann mit allem rechnen. 30 Grad sind drin, aber auch 15 Grad.“ Auf jeden Fall sollten documenta-Besucher den Schirm einpacken. „Jeder dritte Tag im Sommer ist ein Regentag.“

Überall in der Stadt findet man – mal offensichtlich, mal versteckt – documenta-Kunst. Sei es die Spitzhacke von Claes Oldenburg am Ufer der Fulda, der Himmelsstürmer am Kulturbahnhof oder die von Joseph Beuys im Stadtgebiet verteilten „7000 Eichen“ mit ihren Basaltsteinen.

Doch außer documenta und Rembrandt hat Kassel noch mehr Kultur zu bieten, wie Schmidt und Heß erfahren. In der Innenstadt gibt es ganz besondere Museen: Das Museum für Sepulkralkultur etwa, das sich mit Tod und Sterben beschäftigt, ist einzigartig in Europa. Das Tapetenmuseum ist deutschlandweit einmalig – wenn auch zur Zeit geschlossen. Außerdem gilt Kassel als Hauptstadt der sogenannten Märchenstraße und widmet den Brüdern Grimm ein eigenes Museum. Dort werden die Brüder nicht nur als Märchensammler, sondern auch als bedeutende Sprachwissenschaftler präsentiert. Die Stadt plant gerade einen großen Neubau für die Grimms.

Außer Kultur und grünen Wiesen bietet Kassel auch etwas für Sportler, lernen Heß und Schmidt auf ihrer Tour: Auf dem 615 Meter hohen Hohen Gras gibt es im Winter sogar Ski-Abfahrtspisten und Langlauf-Loipen. Und für „Einkaufssportler“ ist die Treppenstraße, die erste Fußgängerzone Deutschlands aus dem Jahr 1953, sehenswert.

„Nach Kassel muss man die Leute locken“, sagt Cäcilia Winter, die seit 1988 Gästeführungen durch die Stadt macht. Auch sie hört die gängigen Klischees wie „Ich bin immer vorbeigefahren“ oder „Ich kenne Kassel nur von der A7 oder vom Bahnhof Wilhelmshöhe“ immer wieder. „Aber wenn die Menschen Kassel erstmal kennen, wollen sie auch wiederkommen“, meint sie. Und alle fünf Jahre sowieso. „Durch die documenta ändert sich das Publikum in Kassel, es wird internationaler“, freut sich die Fremdenführerin.

Das Fazit des Stadtrundgangs? Kassel, das im Oktober 1943 durch Luftangriffe der Alliierten zu 80 Prozent zerstört wurde, ist keine Schönheit, hat aber wirklich schöne Ecken – man muss sich nur mal auf die Suche machen.