Hamburg. Hamburger Start-up Wildplastic will die Welt vor Abfällen retten. Wie es Plastik recycelt – und welchen Fußballclub es als Kunden will.

Was haben die neuen HSV-Auswärtstrikots mit Plastikmüll auf Straßen und Stränden in Indien oder dem Senegal zu tun? Oder HSV-Fanschals, Bettwäsche in Blau-Weiß und Hoodies mit Club-Raute? Seit Neustem: eine Menge. Der Hamburger Traditionsverein nutzt für Onlinebestellungen jetzt Versandtaschen von Wildplastic, die fast komplett aus recyceltem Kunststoff aus Ländern in Asien und Afrika bestehen. 72.000 Tüten hat der Zweitligist bestellt, mit Tendenz für mehr. Da lässt sich eine Menge neues Plastik sparen.

Für Wildplastic ist der prominente Kunde ein wichtiger Schritt. Seit 2019 arbeitet das Hamburger Start-up daran, Plastikmüll aus Ländern ohne funktionierende Abfallwirtschaft in die Wiederverwertung zu holen. Motto: Kurz mal die Welt ein bisschen aufräumen. Es geht zum Beispiel um Einweg-Plastikverpackungen, die in vielen Ländern des globalen Südens als Flaschenersatz genutzt werden. Kaum mehr als ein, zwei Schlucke, dann landen sie leer auf der Straße, am Strand oder auf illegalen Deponien, zusammen mit Flattertüten, Folien und anderen Kunststoffabfällen.

Plastikmüll: HSV setzt Versandtaschen von Wildplastic ein

„Wildes Plastik“ nennt Christian Sigmund das. Der 35-Jährige ist Mitgründer und Geschäftsführer von Wildplastic. Die Geschäftsidee: Fast 80 Prozent des weltweit produzierten Plastikmülls landet in der Umwelt – und ist ein wirklich schlimmes Übel. Aber wenn die hauchdünnen Folien eingesammelt, sortiert und recycelt werden, wird daraus ein Wertstoff – aus dem neue Produkte hergestellt werden können.

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Die vier Schritte, mit denen das Hamburger Start-up Wildplastic Plastikmüll aus der Natur holt und zu neuen Produkten macht. © FUNKE Foto Services | Michael Rauhe

Es geht um schier unendliche Mengen. Jedes Jahr werden weltweit mehr als 450 Millionen Tonnen neues Plastik produziert. Tendenz allen Umweltauflagen zum Trotz – steigend. Wildplastic hat bislang etwa 700 Tonnen wildes Plastik „gerettet“, wie sie es nennen. Schon klar, dass das nur ein kleiner Teil zur Lösung eines riesigen Problems ist. Aber irgendwo muss man schließlich anfangen. „Eine Welt ohne Plastikmüll“, lautet die ehrgeizige Mission der Hamburger auf der Internetseite.

Wildplastic-Kunden: HSV, BVB, Otto, Goldeimer

„Stark, dass der HSV nun auch mit aufräumt“, sagt Geschäftsführer Christian Sigmund. Er sitzt im Wildplastic-Büro in der Speicherstadt, das sich die Firma mit Traceless und Runamics teilt, zwei weiteren Antiplastik-Start-ups. Sigmund wirkt ziemlich zufrieden. Der Hamburger Onlineversender Otto hat nach einer Testphase komplett auf den Versand in Wildplastic-Tüten umgestellt. Weitere Kunden sind der Fußballclub Borussia Dortmund und der nachhaltige Toilettenpapier-Hersteller Goldeimer aus Hamburg.

Außerdem stellt Wildplastic selbst Müllbeutel, sogenannte Wildbags, in verschiedenen Haushaltsgrößen zwischen 10 und 120 Litern her. „Das war unser erstes Produkt. Praktisch die Mülltüte, die doppelt aufräumt“, sagt der frühere Marketingexperte, der unter anderem bei Google und YouTube gearbeitet hat.

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Wildplastic hat als erstes Produkt Müllbeutel, sogenannte Wildbags, in verschiedenen Haushaltsgrößen auf den Markt gebracht. Motto: die Tüte, die doppelt aufräumt. © FUNKE Foto Services | Michael Rauhe

Er sieht Wildplastic als „Systembeschleuniger“. „Es geht darum, Kräfte zu bündeln und Allianzen zu schmieden. Zusammen für das größere Ganze.“ Dabei geht es vor allem darum, die Voraussetzungen zu schaffen, mehr wildes Plastik in den Kreislauf zu bringen. Denn: Weltweit ist die Recyclingquote in den vergangenen Jahren gesunken statt gestiegen, auf gerade mal neun Prozent.

Wildes Plastik aus Indien, Indonesien, Thailand und Senegal

„Wir haben in der ersten Phase Strukturen und Prozesse aufgebaut und gezeigt, dass der Einsatz von wildem Plastik im Recyclingkreislauf funktioniert“, sagt Sigmund, der das Start-up nach einer Südamerika-Reise vor fünf Jahren mit fünf Frauen und Männern gegründet hat. Bis heute dabei sind unter anderem die Agentur-Inhaberin Katrin Oeding und der Kunststoff-Experte Dieter Gottschalk. Die Hamburger kooperieren in Indien, Indonesien, Thailand und mehreren westafrikanischen Ländern mit zertifizierten Organisationen, deren Sammler das wilde Plastik aus der Natur holen.

„Schon das ist komplex, weil es für die Sammler viel einfacher wäre, PET-Flaschen und andere größere Teile zusammenzutragen. Außerdem ist die Qualität des Materials wichtig.“ Wenn möglich wird das wilde Plastik in Herkunftsländern zu Granulat verarbeitet, das die Grundlage für die zirkulären Produkte ist. Aus anderen Ländern, zum Beispiel aus Haiti, wird der Rohstoff per Container zur Produktion nach Portugal verschifft und dort weiterverarbeitet. „Diese Lieferketten zu organisieren, ist echte Pionierarbeit, und Corona hat es nicht einfacher gemacht“, sagt der Wildplastic-Geschäftsführer, der inzwischen 16 Beschäftigte im Team hat.

Otto verwendet nur noch Wildplastic-Versandtaschen

Auf der anderen Seite der Recyclingkette sind die Abnehmer von Wildplastic-Produkten. Mit dem Hamburger Otto-Konzern arbeitet das Start-up schon seit 2020 zusammen. Seit Anfang dieses Jahres setzt der Versandhändler ausschließlich auf Wildplastic-Versandtaschen. Von 2021 bis Ende 2023 wurden den Angaben zufolge nur für Otto-Tüten 308 Tonnen Plastik gesammelt und damit 740.053 Kilogramm CO2 eingespart, heißt es in einer Mitteilung des Unternehmens. In Zusammenarbeit mit zertifizierten Organisationen vor Ort hätten für die Sammler und Sammlerinnen 6725 Tage mit besseren Arbeitsbedingungen ermöglicht werden können. Hermes, ebenfalls Teil der Otto Group, nutzt für Retouren Wildplastic-Beutel.

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Das sind die neuen HSV-Versandtaschen in Kooperation mit dem Hamburger Start-up Wildplastic, die zu mindestens 80 Prozent aus recyceltem Plastik bestehen. © FUNKE Foto Services | Michael Rauhe

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Beim HSV gibt es einen großen Fanshop mit zahlreichen Artikeln von Trikots über Babybodys bis zu Dart-Pfeilen. Die Zielgruppe sind 100.000 Mitglieder und etwa drei Millionen Fans. „Wir haben nach einer nachhaltigen Alternative zu herkömmlichen Versandtaschen aus Plastik gesucht und sind hierbei auf das Angebot von Wildplastic gestoßen“, heißt es aus der HSV-Zentrale auf Abendblatt-Anfrage. Die erste Resonanz sei „durchweg positiv“.

Ein weiterer Kunde mit neuem Potenzial ist der Toilettenpapier-Hersteller Goldeimer. Denn in diesem Fall müssen bei der Herstellung der Verpackungsfolie Hygieneauflagen erfüllt werden. „Wir haben deshalb ein dreischichtiges Material, mit unserer Wildplastic-Folie in der Mitte entwickelt“, sagt Christian Sigmund. Dafür wurde Wildplastic gerade mit dem Deutschen Verpackungspreis ausgezeichnet.

Plastikmüll: Jetzt will das Start-up auch den FC St. Pauli überzeugen

Auch mit anderen Toilettenpapier-Marken sei man im Austausch, sagt Sigmund. Parallel laufen Entwicklungsprojekte für den Bereich Haus und Garten. Schon jetzt ist das Start-up, das in einer Finanzierungsrunde zuletzt 800.000 Euro eingesammelt hat, im Umsatzbereich zwischen 1,5 und zwei Millionen Euro. Im nächsten Jahr will Wildplastic in die Gewinnzone. Die Chancen seien gut, sagt Christian Sigmund. Auch wegen des neuen EU-Verpackungsgesetzes, das bis 2030 die Verwendung von recyceltem Plastik in allen Verpackungen vorschreibt.

Auch mit dem anderen großen Hamburger Fußballclub, dem gerade aufgestiegenen Erstligisten FC St. Pauli, gebe es Kontakte. „Wir würden uns wünschen“, sagt der Wildplastic-Geschäftsführer, „wenn sich bei allem sportlichen Diskurs eine Schnittmenge für eine saubere Umwelt findet.“