Hamburg. Die Pandemie hat das Einkaufsverhalten der Kunden verändert. Darunter leiden Unverpackt-Läden. Erste Händler haben bereits aufgegeben.
Vor dem Eingang sind Töpfe mit Kräutern aufgebaut, an einem Haken hängen Stoffbeutel. „Stückgut. Unverpackt einkaufen“ steht auf der großen Tafel über der Tür. Drinnen gibt es Gemüse und Obst, Milch und Brot, Kaffee und Nudeln, Zahnpasta und Klopapier. Alles, was man zum Leben braucht wie im Supermarkt um die Ecke – nur (fast) ohne Verpackungsmüll.
„Wir haben mehr als 1000 Produkte im Sortiment, alle in Bio-Qualität und viele aus der Region“, sagt Sonja Schelbach (46). Mit Insa Dehne (39) führt sie den Unverpackt-Laden mitten in Ottensen. Ihre Mission: nachhaltigerer Konsum. Eigentlich eine gute Sache. Bis Corona kam, liefen die Geschäfte jedes Jahr besser. Dann der Schock. „Direkt mit dem Beginn der Pandemie hatten wir einen dramatischen Einbruch, und bis heute sind viele Kunden nicht zurückgekommen“, sagt Co-Chefin Dehne und spricht von Umsätzen, die sich mehr als halbiert haben. Inzwischen kämpft Stückgut um die Existenz.
Unverpackt-Laden kämpft ums Überleben
Auch diesem Mittag ist der Verkaufsraum fast leer. Ein Mann füllt Reis und Leinsaaten aus den großen Spendern in mitgebrachte Plastikdosen und wiegt seine Einkäufe danach einzeln auf einer Waage aus. Im Einkaufskorb hat er einige Möhren, ein Pfandglas mit Joghurt und weitere leere Behältnisse. Zwei junge Frauen stehen vor den Regalen mit Drogerieartikeln und begutachten wiederverwendbare Kosmetikpads und Lippenstifte mit einer Halterung aus Pappe statt aus Plastik.
Erst vor gut einem Jahr war Stückgut aus einem kleineren Ladenlokal einige Straßen weiter an den Standort in der Friedensallee gezogen. „Es war eine Art Flucht nach vorn. Wir haben erwartet, dass sich das Einkaufsverhalten nach dem Ende der Lockdowns wieder auf dem Niveau vor Corona einpendelt“, sagt Sonja Schelbach. Inzwischen ist klar: Es kommen immer noch viel zu wenig Kunden. „Wenn das so weitergeht, können wir maximal noch zwei Monate durchhalten“, sagt Insa Dehne.
Ein bis zwei Unverpackt-Läden schließen pro Woche
Die Krise trifft die ganze Branche. Deutschlandweit stehen Unverpackt-Läden vor dem Aus – aber bislang ist die bedrohliche Lage in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Jetzt schlagen die kleinen Händler Alarm. Sie beklagen fehlende staatliche Unterstützung, bei vielen sind die Reserven aufgebraucht. „Wir fallen durchs Raster“, sagt Betriebswirtin Dehne, die als Vorstandsmitglied des Unverpackt Verbandes mit 350 Mitgliedern den Überblick hat. „Uns erreicht gerade eine Kündigungswelle im Verband. Teilweise schließen jede Woche ein bis zwei Läden.“
In Hamburg, mit einem Dutzend Unverpackt-Läden eine Hochburg der sogenannten Zero-Waste-Bewegung, haben die ersten beiden Geschäfte in Bramfeld und Niendorf aufgegeben. Auch Die Waagschale, der erste Unverpackt-Laden in Norderstedt, hat die Kunden um Unterstützung gebeten.
Seit 2018: Immer mehr Unverpackt-Läden
Seit 2014 der erste Unverpackt-Laden Deutschlands in Kiel eröffnete, folgten nach und nach immer mehr Gründer der Idee vom verpackungsfreien Einkauf. Vorreiter als erster reiner Unverpackt-Laden in Hamburg war im Januar 2017 Stückgut. Zu den vier Gesellschaftern gehört neben den beiden Geschäftsführerinnen Schelbach und Dehne auch der Unternehmer und Grünen-Politiker Dominik Lorenzen, seit knapp zwei Jahren Co-Vorsitzender der Bürgerschaftsfraktion seiner Partei. Angefangen hat Stückgut mit einem Mini-Laden mit 50 Quadratmetern und 250 Produkten.
2018 wurde eine Filiale in der Rindermarkthalle auf St. Pauli eröffnet. Nach eigenen Angaben haben sie inzwischen 1,3 Millionen Verpackungen eingespart. Und sie sind schon lange keine Einzelkämpfer mehr. Angesichts der steigenden Mengen von Plastikmüll und der wachsenden Friday-for-Future-Bewegung stieg von 2018 an auch das Interesse an dem Unverpackt-Angebot. In Eimsbüttel, Eppendorf, Winterhude oder Volksdorf machten weitere Läden auf. Bio-Märkte und sogar einige Supermärkte übernahmen die Idee, schufen Verkaufsangebote für lose Produkte.
Verbraucher kaufen durch Corona anders ein
„Der richtig große Umsatzeinbruch kam im Sommer 2021“, sagt Maren Schöning (49), die mit einer Geschäftspartnerin den kleinen Unverpackt-Laden Ohne Gedöns in Volksdorf führt. „Vor der Pandemie hatten wir sonnabends 150 Kunden im Laden, die durch den ganzen Laden Schlange standen“, sagt die Einzelhändlerin. Inzwischen sind es gerade mal die Hälfte. „Insgesamt ist der Umsatz um 40 Prozent eingebrochen.“ Pläne, einen zweiten Laden aufzumachen, haben die Ohne-Gedöns-Inhaberinnen inzwischen begraben.
Es geht ums Überleben. „Das Einkaufsverhalten in den letzten zwei Jahren hat sich verändert, die Kunden erledigen ihren Einkauf an einem Ort oder online. Mehrere Läden anzusteuern, das haben sich viele abgewöhnt“, sagt die Mutter von drei Kindern. Dazu kommt, dass die Themen Klimaveränderung und Umweltschutz seit Beginn der Pandemie Anfang 2020 und jetzt zusätzlich durch den Krieg in der Ukraine an Relevanz in der Öffentlichkeit verloren hätten.
Unverpackt-Läden in Niendorf und Bramfeld dicht
Das haben Maren Plaum und Nina Kessler bitter erfahren. Die Ökotrophologin und die Diplom-Pädagogin hatten im Oktober 2021 den Unverpackt-Laden Unni in Niendorf eröffnet. „Wir haben trotz Corona das Risiko gewagt“, sagt Plaum. Doch schnell war klar, dass es schwierig werden würde. Von Anfang an seien die Erlöse unter den Erwartungen geblieben.
Statt 50 Kunden am Tag, wie im Businessplan vorgesehen, kamen nur 30. Manchmal noch weniger. Und die erledigten nicht etwa ihren Haupteinkauf bei dem kleinen Vollsortimenter am Tibarg, sondern kauften ausgewählte Produkte. „Unverpackt einkaufen ist eine Umstellung. Wir haben gedacht, dass mehr Kunden so weit sind“, sagt Dehne. Schon im März, ein halbes Jahr nach dem Start, zogen die Gründerinnen die Reißleine. „Wir wollten die finanziellen Verluste in Grenzen halten.“ Seit Ende April ist der Laden dicht. Die beiden kehren in ihre Berufe zurück.
Neuer Unverpackt-Laden in Winterhude – trotz Krise
Auch die Gründer von Seppels am Bramfelder Dorfplatz haben aufgegeben. „Schweren Herzens geben wir bekannt, dass wir den Laden schließen müssen!“, hatten sie im März auf ihrer Internetseite geschrieben. Ein wirklich katastrophaler erster Monat nach der Wiedereröffnung im März 2022 und zwei Jahre seit Eröffnung vor zwei Jahren mit monatlich hohen Verlusten ließen keine andere Entscheidung zu. „Die Ersparnisse sind aufgebraucht!“ Auf eine Abendblatt-Anfrage reagierten sie nicht. Der 14. Mai war der letzte Verkaufstag.
Einen anderen Weg hat Victoria Seidel gewählt, die mit ihrem Ehemann im Sommer 2020 ihren Unverpackt-Laden Muttels an der Papenhuder Straße in Winterhude eröffnet hatte. Nach einem Crowd-founding, bei dem knapp 25.000 Euro zusammenkamen, startet sie Ende Juni einen zweiten Standort in der Maria-Louisen-Straße. Trotz Einbußen laufe das Geschäft, sagt sie. „Wir glauben daran, dass die Menschen nach dem Ende der Corona-Zeit mit vielen Einschränkungen wieder Kapazitäten haben, ihren Konsum zu hinterfragen und neue Wege zu gehen.“
Stückgut: Verluste im sechsstelligen Bereich
Die Unverpackt-Pioniere von Stückgut sind inzwischen seit zwei Jahren im Dauer-Krisenmodus. Auf eine halbe Million Euro beziffern sie den Umsatzrückgang 2021 im Vergleich zu 2019. Der Verlust liegt im niedrigen sechsstelligen Bereich. Um wieder mehr Kunden in ihre Läden zu bekommen, haben Sonja Schelbach und Insa Dehne sich einiges einfallen lassen: Rabatt-Stempel, Snackboxen ohne Verpackungen für Büros und Konferenzen, ein Lieferservice.
Ein spezialisierter Unternehmensberater wurde ins Boot geholt, die Kosten gesenkt. Die Öffnungszeiten sind reduziert. Von den 30 Mitarbeitern vor Corona sind 18 übrig. Aber wenn die Kundenzahlen nicht wieder deutlich steigen, sieht es nicht gut aus. Das hat auch mit den steigenden Preisen vor allem bei Lebensmitteln zu tun. „Die Verbraucherstimmung ist eingetrübt, die Menschen achten mehr auf ihr Geld“, sagt Schelbach.
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Auch wenn sie betont, dass die Preise bei Stückgut ähnlich wie in kleinen Bio-Geschäften sind, ist der Einkauf unter dem Strich teurer als im Supermarkt oder im Discounter. Dabei versteht Stückgut sich als Fachgeschäft mit Beratungsangebot. Über eine Kooperation mit einem Großhändler versuchen die Chefinnen, bei Grundnahrungsmitteln wie Nudeln, Haferflocken oder Mehl günstige Angebote zu machen. „Aber“, sagt Betriebswirtin Dehne, „wir haben deutlich weniger Einsparoptionen, weil wir auf die Lieferanten angewiesen sind, die Lebensmittel ohne Einzelverpackung anbieten.“
Inzwischen haben sich die Unverpackt-Händler auf Bundesebene auch an das Bundesumweltministerium gewandt und hoffen auf Hilfe in der existenzbedrohliche Lage. Anfang Juni gibt es ein Gespräch. „Es ist verrückt. Als wir angefangen haben, gab es kaum unverpackte Produkte, die in unserer Konzept passten“, sagt Insa Dehne. Seit einiger Zeit ändere sich das. „Es wäre schon bitter, wenn wir den Laden jetzt nicht halten könnten.“