Hamburg. Wie die einst von Juden gegründete Vaterstädtische Stiftung seit 175 Jahren der Wohnungsnot trotzt – und wer bei ihr Mieter werden kann.
Wenn Wohnungssuchende in Hamburg träumen dürften, würden sie sich das vermutlich so vorstellen: Eine ruhige, aber zentrumsnahe Lage, schicke Altbauten an einer kleinen Kopfsteinpflasterstraße, gesäumt von altem Baumbestand und hübschen Vorgärten, die Mieten äußerst günstig. In der Kielortallee in Eimsbüttel ist dieser Traum Realität, und das ist kein Zufall.
Denn die Vaterstädtische Stiftung, die hier ihren Sitz hat und allein in den umliegenden Gebäuden rund 130 Wohnungen anbietet, ist vor 175 Jahren zu genau diesem Zweck gegründet worden: um günstigen Wohnraum für Bedürftige zu schaffen. Und trotz äußerst bewegter Geschichte, inklusive der Deportation vieler ihrer jüdischen Bewohner und Vorstandsmitglieder während der NS-Barbarei, geht die Stiftung bis heute ihrem Auftrag nach.
Günstige Wohnungen in Eimsbüttel, Eppendorf und Fuhlsbüttel dank „Vaterstädtischer Stiftung“
Mehr als 420 Wohnungen vermietet sie in den begehrten Stadtteilen Eimsbüttel, Eppendorf und Fuhlsbüttel, die meisten davon Sozialwohnungen, die rund 7 Euro pro Quadratmeter (kalt) kosten. Doch auch die 40 bis 50 frei finanzierten Wohnungen sind mit Mieten von rund 7 bis 9 Euro sehr günstig – zumal sie überwiegend in prächtigen, um die Jahrhundertwende errichteten Stiftsgebäuden liegen wie dem Oppenheim- und dem Beit-Stift (beide in Eppendorf) oder dem Wohlwill-Stift in Eimsbüttel.
Möglich ist das vor dem Hintergrund einer selbst für die „Stiftungshauptstadt Hamburg“ ungewöhnlichen Geschichte, die sich aus zwei parallel verlaufenden Entwicklungen speiste: Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs Hamburg im Zuge der industriellen Revolution rasant zu einer Großstadt heran, und zu den Begleiterscheinungen dieses Wandels gehörte „auch ein außerordentlicher Wohnungsmangel“, wie die Historikerin Angela Schwarz in der Chronik der Vaterstädtischen Stiftung schreibt, deren Vorstand sie auch angehört.
Schon vor 175 Jahren herrschte in Hamburg Wohnungsmangel
„Besonders alleinstehende, ältere Frauen hatten große Probleme, bei ständig steigenden Mieten bezahlbare kleine Wohnungen zu finden“, so Schwarz. „Aber auch Familien der unteren Mittelschicht gerieten immer wieder in Zahlungsschwierigkeiten.“ Sätze, die auch die aktuelle Lage in Hamburg beschreiben könnten, wobei diese kaum mit der damaligen Not zu vergleichen sein dürfte – denn Hilfe vom Staat durfte damals noch niemand erwarten.
Gefragt waren stattdessen privates oder kirchliches Engagement. So entstanden im 19. Jahrhundert viele große Wohn-Stiftungen, die größtenteils bis heute existieren, wie die Amalie-Sieveking-Stiftung oder die Hartwig-Hesse-Stiftung. Für die Gründung der „Vaterstädtischen“ bedurfte es aber einer zweiten Entwicklung: Im Zuge der Märzrevolution erlangten die Hamburger Juden 1849 die bürgerliche Gleichstellung, was ihnen ganz neue Möglichkeiten eröffnete.
Der jüdisch-christliche Ansatz der Stiftung galt damals als revolutionär
Aufgrund der großen Wohnungsnot wollte eine Gruppe von jüdischen Kaufleuten, Bankiers und Akademikern umgehend eine „Stiftung für Freiwohnungen“ errichten, so Angela Schwarz. Das Besondere daran: „Die Wohnungen sollten je zur Hälfte von jüdischen und christlichen Familien bezogen werden, die Finanzierung aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden erfolgen und alle mit der Stiftung Verbundenen Mitbestimmungsrechte erhalten.“ Das galt sogar für die Bewohner.
Für damalige Verhältnisse war dieser Ansatz geradezu unerhört revolutionär, und so wurde es in gewissen Kreisen auch wahrgenommen. „Mit ihren paritätischen und demokratischen Grundzügen stießen die Stifter in der Anfangszeit auf erheblichen Widerstand und gerieten sogar unter Revolutionsverdacht“, so Schwarz. Doch auch aufgrund ihrer guten Vernetzung in der Hamburger Kaufmannschaft setzte sich das Ansinnen durch, und am 10. Juni 1849 wurde der „Schillingsverein für Freiwohnungen“ gegründet.
Aus dem „Schillingsverein“ wurde schließlich die „Vaterstädtische Stiftung“
Der Name erinnerte daran, dass die Bewohner zwar bedürftig, aber nicht mittellos sein sollten. Einen Schilling pro Woche hatten sie schon zu entrichten, „damit sie die verliehene Wohnung nicht als Almosen empfanden“, so Schwarz. Im Juli 1851 konnte das erste Gebäude in Hafennähe von sechs jüdischen und sechs christlichen Familien bezogen werden – es steht noch heute an der Straße Eichholz, und wer genau hinschaut, entdeckt über dem Eingang den Schriftzug „Stiftung zum Andenken an die bürgerliche Gleichstellung der Hamburger Israeliten“.
Diesen Namen hatte sich die Stiftung kurz nach der Gründung gegeben, bevor sie sich 25 Jahre später in „Vaterstädtische Stiftung vom Jahre 1876“ umbenannte – die Jahreszahl fiel später weg, da man 1849 als Gründungsdatum betrachtete. Kurz zuvor, 1874, hatte der im Seidenhandel reich gewordene Kaufmann John Rudolf Warburg den Vorsitz übernommen, der die Stiftung maßgeblich erweiterte und prägte – ebenso wie nach seinem Tod sein Neffe Theodor Wohlwill.
Die Mitgliederzahl stieg von unter 100 auf knapp 1400 vor dem Ersten Weltkrieg. Die Mitgliederliste habe sich damals „wie das Who‘s who der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Elite der Stadt“ gelesen, so Angela Schwarz. Durch großzügige Spenden von Warburg und anderen Kaufmannsfamilien konnten immer neue Stifte errichtet werden, die bis heute den finanziellen Grundstock der Stiftung bilden. Das erwies sich vor allem nach dem Ersten Weltkrieg als Glücksfall, denn während Stiftungen mit einem Kapitalstock in Zeiten der Hyperinflation teilweise aufgeben mussten, blieben die Immobilien der „Vaterstädtischen“ wertstabil.
Auf Druck der Nazis mussten Bewohner in „Judenhäuser“ umziehen
Umso härter wurde die Stiftung durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten getroffen. Jüdische Vorstandsmitglieder wurden aus ihren Ämtern gedrängt, jüdische Bewohner – die übrigens 1933 nur noch eine kleine Minderheit stellten – mussten ihre Wohnungen verlassen und in „Judenhäuser“ ziehen. Dafür waren das Martin-Brunn-Stift, das John-R.-Warburg-Stift und das Mendelson-Israel-Stift aus der Stiftung herausgelöst worden. Insgesamt 365 Menschen wurden nach Angela Schwarz‘ Recherchen von dort aus deportiert: „Keiner hat die Konzentrationslager überlebt.“
Da die meisten Gebäude aber im Besitz der Stiftung blieben und etliche den Krieg einigermaßen unbeschadet überstanden hatten, war nach 1945 ein Neuanfang möglich. Nach und nach konnten die historischen Gebäude wieder in einen bewohnbaren Zustand versetzt werden, das Warburg-Stift musste dagegen sogar zweimal neu gebaut werden: 1953 und 1996.
Vaterstädtische Stiftung: Laut Satzung müssen Bewohner heute mindestens 50 Jahre alt sein
Heute zählen zehn Gebäude mit 426 Wohnungen zum Stiftungsvermögen, in denen vor allem ältere, alleinstehende Menschen und Ehepaare leben. Dass man sich auf diese Zielgruppe konzentriert – laut Satzung müssen die Bewohner mindestens 50 Jahre alt sein –, hat sich im Laufe der Zeit so ergeben, unter anderem, weil ältere Menschen es oft besonders schwer haben, bezahlbaren Wohnraum zu finden.
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Die Gebäude der Stiftung wurden zwar über die vergangenen Jahrzehnte modernisiert, mit 35 bis 40 Quadratmetern sind die meisten Wohnungen aber immer noch recht klein – damit aber ideal für alleinstehende Menschen, die günstigen Wohnraum suchen. „Die meisten neuen Mieter haben einen Wohnberechtigungsschein und werden uns von der Stadt vermittelt“, sagt Magdalena Gede, Geschäftsführerin der Stiftung. „Aber manchmal fragen auch Menschen direkt bei uns an, oft haben sie einen Dringlichkeitsschein oder stehen kurz vor der Rente.“
Über die Zufriedenheit der Mieterinnen und Mieter gibt es zwar keine Erhebung, aber die Geschäftsführerin schätzt sie als hoch ein: In den Mietersprechstunden werde zwar auch über die üblichen Probleme gesprochen, etwa die Lautstärke im Haus, sagt Magdalena Gede. „Aber viele neue Mieter kommen mit einem Lächeln im Gesicht auf uns zu und betonen, wie wohl sie sich fühlen – ich habe den Eindruck, dass das ernst gemeint ist.“
Günstig wohnen in Hamburg-Eimsbüttel: Denkmalschutz bereitet Probleme
Probleme bereite eher das Alter der Gebäude, und zwar weniger wegen der Bausubstanz, die sei gut, sondern wegen der damit verbundenen Auflagen: „Dass viele unserer Gebäude unter Denkmalschutz stehen, macht einiges komplizierter“, so Gede. „Wir würden zum Beispiel am Sitz der Stiftung gern eine kleine Rampe bauen, damit das Gebäude barrierefrei erreichbar ist, aber das bedarf langwieriger Abstimmungen mit den Behörden.“
Während andere „soziale Vermieter“ wie die Genossenschaften sich größte Sorgen um die teure Pflicht zur energetischen Sanierung ihrer Gebäude machen, ist das bei der Vaterstädtischen Stiftung kein großes Thema. „Ein Heizungstausch ist glücklicherweise in den meisten Gebäuden nicht notwendig, da sie bereits umweltfreundlich über Fernwärme beheizt werden“, sagt Gede. „Nur zwei Gebäude haben noch Gasheizungen – und die halten hoffentlich noch ein paar Jahre durch.“