Hamburg. Viele Hamburger müssen hohe Nachzahlungen leisten. Wohnungsverband fordert jetzt: Keine Gewinne mehr für Netzbetreiber wie in Dänemark.

Tausende Hamburgerinnen und Hamburger sehen sich aktuell mit horrenden Energiekosten-Nachforderungen für das Jahr 2022 konfrontiert. Oft sind direkt die Endverbraucher betroffen, wie Mieterin Christine Müller, die für Fernwärme im Monat künftig mehr zahlen soll als für die Miete ihrer Wohnung, wie das Abendblatt berichtet hatte.

Doch auch viele Vermieter, die ihrerseits Verträge mit den Energielieferanten haben und diese Nebenkosten an ihre Mieter weitergeben, sind mit den Abrechnungen der Konzerne nicht einverstanden. So hat die Baugenossenschaft freier Gewerkschafter (bgfg), mit rund 7700 Wohnungen in Hamburg einer der großen Vermieter, Klage gegen den Versorger Vattenfall Energy Solutions eingereicht, wie Vorstand Peter Kay dem Abendblatt bestätigte.

Vattenfall fordert in Hamburg 4500 Euro Nachzahlung! Klage gegen Fernwärme-Anbieter

Dabei geht es um das noch recht neue Quartier „Tarpenbeker Ufer“ in Groß Borstel, das über ein eigenes Wärmenetz der Vattenfall-Tochter versorgt wird. Die Mieter der 138 Wohnungen, die die bgfg dort besitzt, müssten für das Jahr 2022 im Schnitt mehr als 1000 Euro nachzahlen, für eine größere Wohnung würden sogar 4500 Euro nachgefordert, berichtet Peter Kay. Das sei erheblich mehr als bei anderen Versorgern.

Seine Genossenschaft hat durchaus Vergleichsmöglichkeiten, denn etwa jede zweite bgfg-Wohnung wird mit Fernwärme beheizt. Beim größten Versorger, den städtischen Hamburger Energiewerken (HEnW), seien die Preise für seine Mieter von 2021 zu 2022 nur um durchschnittlich 60 Prozent gestiegen, sagt Peter Kay – was die HEnW auf Nachfrage bestätigten. Vattenfall rufe für die Wohnungen in Groß Borstel dagegen im Mittel eine Erhöhung von 202 Prozent auf.

452 Euro im Monat nur für Fernwärme – was eine Hamburger Mieterin erlebte

Das wolle man nicht hinnehmen, schließlich haben Genossenschaften den Zweck und Auftrag, günstigen Wohnraum anzubieten, so Kay. Dass dieser aufgrund der hohen Energiekosten für einige Mieter unerschwinglich wird, könne nicht sein.

So war es Christine Müller ergangen: Die ehemalige Altenpflegerin sollte für ihre 68-Quadratmeter-Wohnung in Mümmelmansberg mehr als 2800 Euro nachzahlen und künftig einen monatlichen Abschlag für die Fernwärme von 452 Euro – und das bei einer Kaltmiete von 420 Euro. Ihr Protest bei dem örtlichen Versorger Getec hatte teilweise Erfolg. Das Unternehmen räumte ein, dass auf der Abrechnung eine längst beglichene alte Forderung enthalten war und wollte diese auf gut 2000 Euro reduzieren. Auch den neuen Abschlag werde man im Frühjahr „überprüfen“.

Christine Müller soll für ihre kleine Wohnung in Hamburg-Mümmelmansberg künftig 452 Euro monatlich nur für Fernwärme bezahlen: „Ich werde zum Sozialfall.“
Christine Müller soll für ihre kleine Wohnung in Hamburg-Mümmelmansberg künftig 452 Euro monatlich nur für Fernwärme bezahlen: „Ich werde zum Sozialfall.“ © FUNKE Foto Services | Mark Sandten

Hier wie dort das Problem: In Hamburg gibt es nach Angaben der Behörde für Umwelt und Energie mindestens 87 Wärmenetze (plus weitere, privat betriebene), die von zwölf unterschiedlichen Versorgern betrieben werden. Da jedes Quartier nur ein Wärmenetz hat, ist der jeweilige Versorger dort Monopolist. Die Verbraucher oder Vermieter haben also – anders als bei Strom oder Gas – keine Wahl, vom wem sie ihre Wärme beziehen.

Fernwärme: Zwölf unterschiedliche Versorger – und jeder kalkuliert anders

Hinzu kommt, dass jeder Versorger anders kalkuliert und – weil der Gesetzgeber es so will – dabei immer auch sogenannte Preisgleitklauseln eine Rolle spielen. Das bedeutet, dass die Preisbildung sich am Markt und gewissen Indizes orientiert. Das soll Ausschläge nach oben verhindern und funktionierte gut, solang Energie an den internationalen Märkten günstig war. Verteuert sie sich jedoch, wie nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Febuar 2022, schießen diese Indizes mitunter durch die Decke.

Und dann spielt es eine entscheidende Rolle, wie die Versorger diese Faktoren gewichten, was sie in der Regel nicht offenlegen. So moniert die Genossenschaft bgfg in ihrer Klage gegen Vattenfall Energy Solutions, dass das Unternehmen sich zu stark an den Preisen für Öl und Gas orientiert habe und zu wenig an denen anderer Energieträger wie Holz. „Für uns stellt sich die Frage, ob die Berechnungsformel sittenwidrig ist“, sagt Vorstand Peter Kay.

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Vattenfall ging auf Abendblatt-Anfrage auf den konkreten Fall nicht näher ein. Da es sich bei der Anlage in Groß Borstel um „ein kundenspezifisches Netz“ handele, könne man „keine Angaben zu Gebäuden und Verbräuchen machen“. Allgemein hieß es, die massiven Preiserhöhungen seien Folge „der durch den Ukrainekrieg ausgelösten Energiekrise“. Da zwischen der Preisbildung in 2022 und der Heizkostenabrechnung fast 1,5 Jahre lägen, komme es „verständlicherweise zu Diskrepanzen“ zwischen den Abrechnungen und den Erwartungen der Mieter.

Fernwärme-Preise: Bundeskartellamt ermittelt gegen sechs Versorger

„Diskrepanzen“ gibt es allerdings auch bei den Preisen der Energieunternehmen. Jedenfalls ermittelt das Bundeskartellamt bereits gegen sechs Versorger „wegen des Verdachts auf missbräuchlich überhöhte Preissteigerungen“. Zudem hat der Bundesverband Verbraucherzentrale Klage gegen die Unternehmen E.on und HanseWerk Natur eingereicht, weil diese ihre Preise für Fernwärme „um mehrere Hundert Prozent erhöht“ hätten. Auch in Hamburg haben die Verbraucherzentrale und die Mietervereine derzeit massenhaft ähnlicher Fälle auf dem Tisch und raten den Kunden, sich zu wehren.

Beim Verband Norddeutscher Wohnungsunternehmen (VNW), in dem vor allem Vermieter günstiger Wohnungen wie die Genossenschaften organisiert sind, wird diese Entwicklung schon länger genau beobachtet. Grundsätzlich sei man zwar überzeugt davon, dass regenerativ erzeugter Fernwärme für das Gelingen der Energiewende eine besondere Rolle zukomme, sagte VNW-Direktor Andreas Breitner dem Abendblatt. Doch noch stecke sie „voller Kohle, Erdgas und Öl und ist damit in erster Linie eine grüne Gaukelei“.

VNW fordert unabhängige Behörde, die die Preise für Fernwärme kontrolliert

Ein weiteres Problem sei die „intransparente Preisgestaltung“, wie sich im Fall Mümmelmannsberg zeige. „Wiederholt haben soziale Vermieter beklagt, dass sie die Ermittlung der Preise nicht nachvollziehen können“, so Breitner. „Bei intransparenten Preisen für ein Produkt, das ein großer Teil der deutschen Haushalte kaufen soll, muss aber unmittelbar eingegriffen werden.“

Sein Vorschlag: „Wir brauchen deshalb eine unabhängige, bundesweit agierende Behörde, die laufend die Preise für Fernwärme beobachtet, kontrolliert und umgehend eingreift, wenn zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher Reibach gemacht wird.“ Denn Fernwärme-Kunden könnten nicht mal eben den Anbieter wechseln. Zudem müssten die Energieerzeuger ihre Kostenstruktur offenlegen, so der VNW-Chef.

Keine Gewinne mit Fernwärme? Dänemark könnte ein Vorbild sein

Die in dem Verband organisierten Wohnungsunternehmen fordern zudem, „die Fernwärme einem Gemeinnützigkeitsgebot zu unterlegen“, sagte Breitner. „Wie in Dänemark sollte auch hierzulande der Preis für Fernwärme lediglich den Betrag decken, der für die Herstellung und Verteilung benötigt wird.“ Die Gewinne sollten gedeckelt und ausschließlich in die Fernwärmeversorgung reinvestiert werden. „Eine Quersubventionierung anderer öffentlicher Aufgaben durch Überschüsse aus dem Fernwärmegeschäft muss gesetzlich ausgeschlossen werden.“

Bei den Energiekonzernen dürften diese radikalen Forderungen auf wenig Gegenliebe stoßen. Vielleicht kündigen sie daher bereits an, dass die nächsten Abrechnungen moderater ausfallen werden. So wies Vattenfall darauf hin, dass die Koppelung an Markt-Indizes sich in 2023 schon wieder positiv ausgewirkt habe, ebenso wie die staatliche Wärmepreisbremse, die in dem Jahr galt: „So wird in vielen Fällen die Jahresrechnung für 2023 voraussichtlich um ein Viertel bis um die Hälfte geringer sein als für 2022.“