Hamburg. Hamburgerin sollte fast 3000 Euro nachzahlen, monatlicher Abschlag wurde verfünffacht. Mieterin jetzt Sozialfall. Weitere Beispiele.

Für die Energiewende spielt sie eine zentrale Rolle: die Fernwärme. Nach dem heftigen Streit um das Heizungsgesetz der Bundesregierung sind nun zunächst alle Großstädte wie Hamburg aufgefordert, bis Mitte 2026 einen „Wärmeplan“ zu erstellen, aus dem hervorgeht, welche Bürger an ein Fernwärmenetz angeschlossen werden können (oder schon sind), bevor man sie zu anderen Formen des klimafreundlichen Heizens verpflichtet.

Auch Hamburg investiert massiv in den Ausbau seines Fernwärmenetzes. Erst kürzlich wurde der Bau eines Tunnels unter der Elbe hindurch begonnen, durch den der Norden der Stadt mit klimafreundlicher Wärme versorgt werden soll. Für die regierende SPD ist es dabei „unabdingbar“, dass das Heizen von Gebäuden „auch im Rahmen der sogenannten Wärmewende für alle bezahlbar bleibt“, hatte Fraktionschef Dirk Kienscherf 2023 betont.

Preis für Fernwärme explodiert: Hamburger Mieterin schockiert

Im Fall von Christine Müller ist das nicht gelungen. Als die ehemalige Altenpflegerin kürzlich ihre Fernwärme-Abrechnung für das Jahr 2022 aus dem Briefkasten holte, traute sie ihren Augen nicht: Eine Nachforderung von exakt 2849,78 Euro verlangte ihr Lieferant, die Getec Wärme & Effizienz GmbH Nord – und das, obwohl Müller ihren Verbrauch gegenüber dem Vorjahr um gut 20 Prozent gesenkt hatte. Schon diese Zahlung überforderte die 56-Jährige, die sich in ihrem Job aufgerieben hatte, arbeitsunfähig ist und nun eine schmale Erwerbsminderungsrente bezieht.

Noch viel schlimmer war jedoch die nächste Spalte: Künftig soll Müller monatlich 452 Euro Abschlag zahlen – mehr als die 420 Euro, die sie an Miete für ihre 68-Quadratmeter-Wohnung in Mümmelmannsberg überweist. „Ich bin jetzt ein Sozialfall, da meine Rente nicht mehr ausreicht“, sagt sie frustriert. Ein bedauerlicher Einzelfall? Mitnichten.

Von 1400 bis 4700 Euro: Alle Mieter klagen über massive Nachforderungen

In ihrem Haus hätten alle acht Parteien saftige Nachforderungen der Getec erhalten, die geringste liege bei 1400 Euro, hat Christine Müller erfahren. Eine alleinerziehende Mutter aus der Nachbarschaft solle sogar 4700 Euro nachzahlen und sei völlig verzweifelt. Und bei der Verbraucherzentrale Hamburg heißt es: „Ganz Mümmelmannsberg ist betroffen.“

Doch wie kann das sein? Dass Energie nach dem russischen Überfall auf die Ukraine Anfang 2022 teurer wurde, war bekannt. Die Hamburger Energiewerke hatten damals schon gewarnt, dass die Preise für Fernwärme wohl um mindestens 60 Prozent steigen werden. Doch Christine Müller liegt weit jenseits davon: Sie hatte bislang einen Abschlag von 80 Euro im Monat bezahlt. Damit sei sie immer gut gefahren. Der nun geforderte Abschlag von 452 Euro im Monat bedeutet für sie mehr als eine Verfünffachung der monatlichen Belastung für Fernwärme gegenüber der Vor-Krisen-Zeit.

Fernwärme: Verbraucherzentrale findet Abrechnung „fragwürdig“

„Das passt nicht“, sagt Jan Bornemann, Energieexperte bei der Verbraucherzentrale Hamburg. „Abschlagszahlungen müssen immer angemessen sein.“ Ob das bei einer Verfünffachung der Raten zu rechtfertigen sei, sei doch sehr fragwürdig – zumal die Energiepreise 2022 auf dem Höhepunkt gewesen und 2023 schon wieder gesunken seien.

Christine Müller mit der Fernwärme-Rechnung der Firma Getec: Fast 3000 Euro sollte sie nachzahlen.
Christine Müller mit der Fernwärme-Rechnung der Firma Getec: Fast 3000 Euro sollte sie nachzahlen. © FUNKE Foto Services | Mark Sandten

Er habe seit dem Herbst vermehrt Beschwerden über die Abrechnungen der Getec erhalten, die in Mümmelmannsberg das örtliche Fernwärmenetz betreibt, sagt Bornemann. Seine Rechtsauffassung sei: In solch extremen Fällen wie dem von Christine Müller müssten Unternehmen eigentlich ihre Kalkulation offenlegen. Dann zeige sich, wie das Verhältnis von Beschaffungskosten zu den den Verbrauchern in Rechnung gestellten Kosten ist, so Bornemann: „Wenn die Kluft zu groß wäre und das Unternehmen hohe Gewinne gemacht hätte, wäre das aus unserer Sicht nicht hinnehmbar.“ Doch diese Transparenz würden die meisten Unternehmen scheuen.

Fernwärme-Lieferant Getec verweist auf „extrem gestiegenen Preis für Erdgas“

Auch die Getec hat auf Abendblatt-Anfrage, wie sie diese exorbitant hohe Fernwärme-Rechnung für eine so kleine Wohnung erkläre, nur die Kosten für die Verbraucher erläutert: Für die 71 Wohnungen auf dem betreffenden Grundstück in Mümmelmannsberg hätten die Kosten von 2021 auf 2022 um durchschnittlich 84 Prozent zugelegt, was „am extrem gestiegenen Preis für Erdgas in 2022“ lag, so ein Sprecher der Getec, die ihre Blockheizkraftwerke in der Siedlung mit Gas befeuert.

Doch zum einen kann sich Christine Müller nicht erklären, warum die Steigerung bei ihr viel höher ist. „Ich heize vielleicht mehr als der eine oder andere Nachbar“, räumt sie ein. Doch das könne niemals Hunderte Euro mehr ausmachen. Vorsichtshalber sitzt sie inzwischen dennoch bei 16 Grad im Wohnzimmer.

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Zum anderen bleibt eben unklar, ob die Beschaffungskosten der Getec diese Preissteigerungen rechtfertigen. Das sei ein generelles Problem des Fernwärmemarktes, sagt Experte Bornemann. Dort werde mit „Preisanpassungsklauseln“ gearbeitet, die außer den tatsächlichen Kosten auch die Verhältnisse auf dem Wärmemarkt abbilden, zum Beispiel über gewisse Indizes.

Das sei vom Gesetzgeber so gewollt und habe auch viele Jahre gut funktioniert. Aber wenn so ein Index stark ansteige, könnten halt auch die Verbraucherpreise explodieren – das sei 2022 geschehen. Die spannende Frage sei nun, ob die Unternehmen diese Lage ausgenutzt haben, um ordentlich Kasse zu machen.

Preisexplosion bei Fernwärme: Kartellamt ermittelt wegen Missbrauchs

Genau das untersucht das Bundeskartellamt bereits: Es hat im Herbst 2023 ein Verfahren gegen sechs Versorger „wegen des Verdachts auf missbräuchlich überhöhte Preissteigerungen im Zeitraum von Januar 2021 bis September 2023“ eröffnet – ohne diese namentlich zu nennen. Der Bundesverband Verbraucherzentrale hat sogar Klage gegen die Unternehmen E.on und HanseWerk Natur eingereicht, weil diese ihre Preise für Fernwärme „um mehrere Hundert Prozent erhöht“ hätten.

Rolf Bosse ist Geschäftsführer des Mietervereins zu Hamburg. Er rät Verbrauchern, ihre überhöhte Fernwärmerechnung zu beanstanden.
Rolf Bosse ist Geschäftsführer des Mietervereins zu Hamburg. Er rät Verbrauchern, ihre überhöhte Fernwärmerechnung zu beanstanden. © FFS-HH | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Ob die Getec davon zumindest indirekt betroffen sein wird, bleibt abzuwarten. Rolf Bosse, Geschäftsführer des Mietervereins zu Hamburg, findet Christine Müllers Abrechnung jedenfalls auch auffällig: „Für mich ist sehr fragwürdig, ob Getec das so hätte abrechnen dürfen“, sagte er dem Abendblatt. Er empfehle allen Betroffenen, gegen offensichtlich überhöhte Rechnungen Widerspruch einzulegen und sich Rat zu holen. Der Mieterverein verfolge etliche solcher Fälle für seine Mitglieder.

Kostenschock bei Fernwärme: Am Ende muss das Sozialamt zahlen

Das Problem in Mümmelmannsberg und anderen Großsiedlungen ist dabei oft: Viele Bewohner sind Geringverdiener oder beziehen Sozialleistungen, sodass am Ende der Staat die höhere Energierechnung begleichen muss. Auch Christine Müller wusste sich nicht mehr anders zu helfen, also das Sozialamt in Billstedt um Hilfe zu bitten, wo man sehr freundlich und hilfsbereit gewesen sei. „Mir könnte das also egal sein“, sagt Müller, „aber das ist es nicht. Ich will wieder unabhängig sein und meine Rechnungen selbst bezahlen.“

Auch Rolf Bosse sagt, es könne ja nicht sein, dass Energieunternehmen ihre Gewinne maximieren, während die Steuerzahler die Kosten dafür übernehmen müssten. Er fordere daher, dass sich die Stadt stärker engagiere und im Namen der betroffenen Mieter mit den Konzernen streite, was aber bislang auf wenig Widerhall stoße.

Jeder Fernwärme-Anbieter ist Monopolist, ein Wechsel ist nicht möglich

Theoretisch könnten auch die Vermieter Druck machen. Doch auch das ist auf dem Gebiet der Fernwärme schwierig. Denn es gibt in jedem Stadttteil oder Quartier nur ein Netz, der jeweilige Anbieter ist also Monopolist, ein Wechsel nicht möglich. Die Verbraucherzentrale spricht daher von „gefangenen Kunden“. In Christine Müllers Fall kommt hinzu, dass ihr Vermieter, die Baugenossenschaft Dennerstraße-Selbsthilfe (BDS), nicht selbst einen Vertrag mit der Getec hat, sondern das den Mietern überlässt.

Auf Abendblatt-Anfrage hieß es bei der BDS daher zunächst, man sei der falsche Ansprechpartner für das Problem. Auf Nachfrage, ob es einer Genossenschaft nicht missfalle, dass ihre günstigen Wohnungen durch eine exorbitant hohe Fernwärme-Rechnung doppelt so teuer werden, erklärte eine Sprecherin dann: Man habe die Mieter frühzeitig auf die steigenden Energiepreise hingewiesen und „umfassend über Möglichkeiten des Energiesparens informiert“.

Preisexplosion bei Fernwärme: Widerspruch der Mieterin hat Erfolg

Immerhin: Nachdem Christine Müller bei der Getec beanstandet hatte, dass auf ihrer Rechnung auch eine Altforderung aus dem Vorjahr stehe, die sie längst beglichen habe, und auch das Abendblatt nachgefragt hatte, gab das Unternehmen klein bei und fordert jetzt „nur“ noch 2027,47 Euro Nachschlag. Und der monatliche Abschlag von 452 Euro werde „noch überprüft und im März 2024 angepasst“. In welche Richtung, teilte Getec nicht mit.