Hamburg. Stadtentwickler setzen auf die Sogwirkung von Cafés und Restaurants. Patrick Rüther erklärt, warum Individualisten so wichtig sind.
„Wo die Wirtschaft stirbt, stirbt der Ort“, brachte es der Kulturgeograf Prof. Hans Hopfinger einmal auf den Punkt. Er sprach dabei nicht von Industriebetrieben oder Autobauern, sondern von der Eckkneipe, dem Dorfkrug oder dem Wirtshaus im Viertel. Seine Botschaft: Gaststätten sind ein Kulturgut – auf dem Lande, aber auch in der Stadt.
Da wundert doch, wie wenig Wertschätzung Wirtschaften bekommen. Lokale gelten in der öffentlichen Debatte als Biotop der Schnapsnasen, der Stammtisch ist zum Kampfbegriff geworden, um ungeliebte Meinungen zu diffamieren. Und wenn die Branche einen kräftigen Schluck aus der Steuerpulle – ein Plus von 7 auf 19 Prozent ab Neujahr – eingeschenkt bekommt, bleibt der Prosteststurm im Land ein laues Lüftchen. Zählte das Statistikamt Nord 2009 in der Hansestadt noch 1182 Steuerpflichtige im Geschäftsfeld Ausschank von Getränken, waren es 2021 nur noch 828.
Hamburger Gastronom Patrick Rüther: Kneipen sind Begegnungsstätten und enorm wichtig
Es sind Zahlen und Entwicklungen, die Patrick Rüther seit 2003 umtreiben – dem Jahr, als er mit dem City Beach Club eine der ersten Strandbars in einer Großstadt gründete. „Kneipen sind Begegnungsstätten und enorm wichtig für Stadt und Land. Früher sagte man, sie sind der dritte Ort neben Arbeit und Zuhause. In Zeiten des Homeoffice sind sie zum zweiten Ort geworden“, sagt der 50-Jährige.
Rüther hat nicht nur viele Konzepte verwirklicht wie die Bullerei in den Schanzenhöfen, das Alte Mädchen gleich nebenan oder das Überquell auf St. Pauli, er berät deutschlandweit Gastronomen mit seiner Agentur Tellerrand Consulting.
Zugleich bleibt er Gastronom aus Leidenschaft: „Gaststätten sind Orte, an denen Menschen zusammenkommen und auch mal ein Feedback auf ihre Meinung bekommen, das sich von den Echokammern und sozialen Medien abhebt. Es sind die Orte, wo Geburten und Beerdigungen zelebriert werden, wo politische Willensbildung stattfindet, wo Sportvereine feiern. Wir sind sozialer Schmierstoff.“
Zudem seien Kneipen, Bars und Café ein zentraler Faktor der Stadtentwicklung: „Wir helfen, Orte zu beleben. Wo wir fehlen, wird es duster.“
Restaurants Hamburg: Mit der Mehrwertsteuererhöhung fürchten viele den Ruin
Düsternis dräut: Laut einer aktuellen Umfrage des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands (Dehoga) will wegen der Mehrwertsteuererhöhung jedes 20. Unternehmen schließen, jedes achte fürchtet den Ruin. Rüther sieht ein doppeltes Problem: „Diese Steuer reichen wir nur weiter. Damit aber reißen wir viele Preisgrenzen“, sagt er. Ein Gericht, das 27 Euro kostet, müsste bald mit mehr als 30 Euro auf der Karte stehen.
„Viele Gäste beschleicht dann das Gefühl: Oh, jetzt ist es noch teurer geworden, ohne dass ich eine Verbesserung an Service oder Qualität habe.“ Rüthers Sorge: „Am Ende bezahlt es die Branche mit Umsatzrückgängen.“
Das träfe gerade die Angebote, die Städte, Dörfer, Plätze beleben. Denn für Essen zum Mitnehmen gilt weiterhin der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent. „Warum subventionieren wir warme Speisen vom Bäcker, Supermarkt, dem McDrive?“ Die Frage ist rhetorisch.
Gastronomie-Branche fehlt eine starke Interessenvertretung
Warum aber hat die Branche kaum eine Lobby? Rüther glaubt, dass die Szene schwer auf einen Nenner zu bringen ist: Zur Gastronomie wird alles gezählt, wo Essen und Trinken über den Tresen gereicht wird, Pizza Hut oder Starbucks gehören ebenso dazu wie der Späti und die Bierschwemmen, das Sternerestaurant oder das Kulturcafé, das Braugasthaus wie der Dönerladen, Autobahnraststätten, Kita-Caterer. „Da ist es sehr schwer, alle Interessen unter einen Hut zu bekommen.“
Rüther weiß auch: Schwarze Schafe haben den Ruf der Branche beschädigt mit Schwarzgeld- und Schattenwirtschaft. Manche sparen bei der Mehrwertsteuer, der Einkommenssteuer und auch den Sozialbeiträgen, indem sie eine zweite Kasse führen.
Gastronomie Hamburg: Warum Verzicht auf Bargeld mehr Chancengleichheit bringt
„Da schlagen inzwischen zwei Herzen in meiner Brust. Als freiheitsliebender Mensch bin ich skeptisch, aber als Gastronom dafür, komplett auf Bargeld zu verzichten. So ließe sich die Wettbewerbsverzerrung beenden.“ Auch das Trinkgeld könnte man mit Karte bezahlen – im Überquell ist es Teil des Bestellprozesses.
Das funktioniert: Die meisten Menschen geben zwischen fünf und zehn Prozent. Rüther hält es für einen Prozess, an den man sich gewöhnt. „In England kann ich längst jeden Straßenmusikanten mit Karte bezahlen.“
Gastronomie Hamburg: Besonderes Engagement verringert die Marge
Der St.-Pauli-Fan kämpft vor allem für die Gastronomie, die Essen und Trinken in ein Erlebnis verwandelt: „Gastronomie hängt immer an den Menschen, die einen Laden betreiben: die einen Sonderpreis für den Sportverein machen, eine Bühne bieten für Kleinkunst, im Stadtteil verwurzelt sind.“
Dieses besondere Engagement aber geht auf die Marge: „Wenn ich als Gastronom ein tolles Konzept verfolge, zahle ich mehr für die Zutaten und meine Mitarbeiter, da spare ich nicht am Ambiente oder an Möbeln. Alles ist weniger durchoptimiert.“ Gerade diese Gastronomen seien auf faire Bedingungen angewiesen: „Sonst fragen die Gäste, warum bei uns ein Steak 28 Euro kostet und drei Straßen weiter nur 19 Euro.“
Warum ein gutes Wiener Schnitzel 30 Euro kosten muss
Gibt es Untergrenzen, die gewisse Gerichte kosten müssen? „Das ist schwer zu sagen. Wer in einem abgeschriebenen Laden arbeitet, den er lange nicht renoviert hat, wer billig einkauft und sich wenig auszahlt, kann eine Pizza für unter zehn Euro anbieten. Wer hingegen mit lokalen Handwerkern ein neues Restaurant gebaut hat, gute Zutaten verwendet und seine Leute fair bezahlt, muss mehr nehmen“, rechnet der studierte Jurist vor. „Wer sein Wiener Schnitzel tiefgefroren in die Fritteuse wirft, benötigt keine 30 Euro. Bereitet er es aber mit Butterschmalz und Kalbsfleisch zu, muss es mehr kosten.“
Genau auf diese Individualisten hoffen die Stadtentwickler. Allerorten hört man, dass Gastronomie die Innenstädte retten kann – sie sollen Frequenz bringen, Straßen und Plätze beleben, Identität schaffen. Vielerorts werde sie sogar von Bauherren subventioniert, um eine Quartiersentwicklung zu ermöglichen. „Wer individuelle Gastronomen will, kann nicht die gleichen Mieten nehmen wie bei einem Systemgastronomen.“
Rüther warnt aber vor zu hohen Erwartungen: „Das ist längst kein Selbstläufer mehr. Die alte Strategie, im Erdgeschoss 300 Quadratmeter offen zu halten, reicht nicht. Es gibt immer weniger Menschen, die Gastronomie auf sich nehmen.“
Spätfolgen von Corona machen der Gastronomie bis heute zu schaffen
Der Gastronom, der im Hanseviertel die ehemalige Mövenpick-Fläche entwickelt, will nicht klagen, sondern beschreiben, wie sich die Branche verändert hat – und wie ihr das Leben schwer gemacht wird. Das beginnt mit dem Fachkräftemangel. „Immer weniger Menschen sind bereit, in der Gastronomie zu arbeiten.“ Noch vor 20 Jahren habe er spontan Aushilfen anrufen können, die bei gutem Wetter vorbeikamen. „Das macht heute kaum einer mehr.“
Hinzu komme die Belastung der vergangenen Monate: „Viele Teams sind ausgelaugt, weil Leute fehlen und sie wegen Krankheitszeiten zusätzlich ausdünnen.“ Die Bezahlung in der Branche sei hingegen besser als ihr Ruf: „Es wird oft vergessen, dass viele Zuschläge steuerfrei sind und sehr viele Mitarbeiter mit monatlich 200 bis 1000 Euro Trinkgeld nach Hause gehen.“
Zugleich leidet die Branche weiter an den Spätfolgen von Corona: „Es wird nicht mehr so werden, wie es vorher war“, sagt Rüther. Aber es ist auch okay, dass einige Gastronomen aufhören.“
Gastronomie: Gerade der Mittelstand ist unter Druck geraten
Als weitere Problem kommt die Inflation hinzu, die durch die Rückkehr zum alten Mehrwertsteuersatz politisch zusätzlich angeheizt wird. Auch die Bürokratie macht den Unternehmen zu schaffen: „Die kostet inzwischen ungeheuer viel Kraft und bindet Ressourcen, angefangen bei den Allergenkennzeichnungen über Datenschutz bis zum Whistleblower-Gesetz. Das hat alles seine Berechtigung, aber in der Summe wird es schwierig. Große Unternehmen mit einer Zentrale können das abfedern. Aber ein Gastronom, der schon 16 Stunden am Tag arbeitet, um über die Runden zu kommen?“
Gerade die Mitte gerate zunehmend unter die Räder. „Besonders leidet derzeit die obere Mittelklasse“, sagt Rüther und meint damit Restaurants, die zwischen 20 und 40 Sitzplätze haben, relativ teuer anmuten, weil sie Qualität bieten, ihre Mitarbeiter gut bezahlen und ein schönes Ambiente haben. „Wer keinen Stern besitzt und nicht gehypt wird, hat es relativ schwer.“ Manche Läden hätten schon schließen müssen. Umfragen zeigen: Die Menschen sparen, und das spürt vor allem die Mitte. Luxus und günstige Anbieter trifft die Flaute weniger.
Die Wünsche des Gastronomen an die Politik
Angesichts der vielen Krisen und Herausforderungen wirbt der Vater zweier Kinder für mehr Verständnis für die Gastronomie: „Die Menschen kommen zu uns mit dem berechtigten Anspruch, eine gute Zeit zu haben und eigene Sorgen zu vergessen. Aber manchmal können wir unseren Frust nicht weglächeln.“
Nach den Jahren der Krise wünscht sich Rüther von der Politik mehr Rückhalt: „Wir fühlen uns manchmal alleingelassen. Hamburg ist eine Stadt, die Gastronomie feiert und zelebriert. Aber die Politik schaut vor allem auf den Flughafen, den Hafen, die Großunternehmen. Der Faktor Gastronomie wird übersehen.“
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Mit Produktion, mit Zulieferern und den direkt Beschäftigten sei die Branche der zweitgrößte Arbeitgeber und ein riesiger Wirtschaftsfaktor. „Das wird als gegeben hingenommen, weil er schon immer da war und auch weiter existieren wird. Die Frage ist nur, wie. Wollen wir Amerika nacheifern und vor allem große Ketten bekommen oder individuell bleiben?“
Er empfiehlt, von Kopenhagen zu lernen. „Da wird viel für die Branche getan, und das hat auch mit Geld zu tun: Die Stadt erleichtert Gastronomen das Leben, etwa bei der Unternehmensgründung, stellt Flächen bereit und hat mit Festivals eine Genusskultur geschaffen. So hat sich ein echtes Biotop mit einer richtigen Dynamik entwickelt“, sagt er. „Ich bin sicher, das kann Hamburg auch – und hat ja bereits mit dem Open Mouth Food Festival den Anfang gewagt.“
Die fünf Fragen: Patrick Rüther über seine Lieblingsorte
Meine Lieblingsstadt ist Kapstadt, auch wenn meine Heimat Hamburg ist und bleibt. Kapstadt ist eine tolle, spannende, inspirierende Metropole – trotz der hohen Kriminalität. Ich habe dort im Jahr 2000 gelebt, als die gefühlte Sicherheit noch niedriger war als heute. Aber das bunte Miteinander, die Umgebung, die Natur, das Wetter, das Licht haben mich tief beeindruckt.
Mein Lieblingsstadtteil ist St. Pauli. Wo sonst ist Hamburg so bunt und abwechslungsreich? Dort liegen die Wallanlagen, der Hafen, das Millerntor-Stadion.
Mein Lieblingsgebäude ist die Oberhafenkantine, so süß, nett und wunderbar schief. Mir gefällt alles, was etwas älter und aus Backstein ist – die Lage im Oberhafen bleibt etwas Besonders.
Mein Lieblingsort ist der Platz neben den Musicalzelten, der leider immer mehr abgesperrt wird. Wir haben da mal mit dem Bullerei-Team gegrillt. Ein cooler Platz zum Abhängen mit einem grandiosen Blick auf die Landungsbrücken. Ich mag Entenwerder, weil das Café beweist, dass man auch an entlegenen Orten etwas Tolles gestalten kann. Wesentlich zentraler, aber etwas versteckt ist der Elbhang zwischen Altonaer Balkon und Fischmarkt, eine grüne Oase mitten in der Stadt.
Einmal mit der Abrissbirne … sollte man sich aus Klimaschutzgründen zurückhalten. Aber es gibt einfallslose Architektur, die niemandem nützt. Ich komme aus Bergedorf und störe mich seit Jahren am Neubau des City Centers. Was hätte der Bezirk auf dieser Fläche machen können?