In Deutschland sterben die Kneipen in einem rasanten Tempo. Man sollte sich ihres Wertes bewusst werden, bevor es zu spät ist.
Es ist ein leises Sterben. Doch wer regelmäßig übers Land fährt, der kann den Trend nicht mehr übersehen: die Vorhänge geschlossen, der Speisekartenkasten leer, die Lichtwerbung verlöscht. Sie tragen unterschiedliche Namen wie „Zur deutschen Eiche“, „Seeschlösschen“ oder „Bei Willi“, sie liegen in Holstein, der Eifel oder dem Oldenburger Land, sie teilen das gleiche Schicksal: In Deutschland sterben die Kneipen. Zwischen 2001 und 2011 haben 13.500 Wirte aufgegeben, deutlich mehr als ein Viertel der Schankwirtschaften sind inzwischen Geschichte. Umgerechnet schließen vier Kneipen Tag für Tag – und die Geschwindigkeit nimmt eher noch zu denn ab.
Dieser Trend verheert nicht nur die Dörfer und das Land, sondern auch die Hansestadt. Die Eckkneipe, das kleine Lokal, die alteingesessene Wirtschaft, sie alle verschwinden. In Hamburg ist seit der Jahrtausendwende sogar fast jede zweite Kneipe für immer zugesperrt worden – laut statistischem Landesamt ist die Zahl der Steuerpflichtigen im Wirtschaftsbereich „Schankwirtschaften“ in Hamburg von 1483 (2002) auf 773 (2012) zurückgegangen. Der Trend ist eindeutig, je kleiner, desto aussichtsloser. Während hierzulande das Verschwinden von Flora und Fauna, von Küchenschellen und Fransenflüglern detailliert erfasst, katalogisiert und angeprangert wird, sterben Zapfhahn und Bierblume still dahin. Obwohl auch hier ein System in Schieflage gerät – das soziale System einer Nachbarschaft, einer Straße, eines Dorfes. Oftmals ist die Kneipe die letzte Institution in fußläufiger Entfernung, nachdem die Discounter den Krämern längst den Garaus gemacht haben.
Die Unterschiede sind vielfältig – sie fallen nicht vom Himmel, sondern sind menschengemacht beziehungsweise nicht gemacht. So leiden die Dörfer als Erste unter dem Bevölkerungsrückgang. Die wenigen Verbliebenen setzen sich nicht mehr in den Gasthof, sondern ins Auto und fahren dorthin, wo das Leben tobt. In den Städten wiederum wird jede Woche ein anderes Fest gefeiert, das den Umsatz aus der Kneipe zieht. Der deutsche Hotel- und Gaststättenverband beklagt zudem eine Wettbewerbsverzerrung durch Vereinskneipen, die vielfach ohne behördliche Auflagen und steuerbefreit ausschenken. Nicht zu vergessen – der „Geiz-ist-geil“-Tick, der das gezapfte Pils in eine preisliche Beziehung zum Supermarkt-Bier setzt. Auch um das Image der Kneipenkultur steht es nicht zum Besten. Lokale gelten in der öffentlichen Debatte als Biotop der Schnapsnasen, der Stammtisch ist zum Kampfbegriff geworden, um ungeliebte Meinungen zu diffamieren.
Natürlich gibt es finstere Klausen und schräge Gestalten hinter nikotingelben Gardinen – aber in ihrer Gesamtheit sind Kneipen ein Kulturgut und ein Ort, der eine auseinanderdriftende Gesellschaft zusammenhält. Es mutet seltsam an: Kein Deutscher kann sich den französischen Dorfplatz ohne das Café neben der Kirche vorstellen, keiner die italienische Landidylle ohne Trattoria – die Kneipe im heimischen Hinterland hingegen scheint zu vielen entbehrlich. Sie ziehen im Zweifelsfall den Autohof vor. Was verloren geht, merkt man oft erst, wenn es zu spät ist. Wer neu in ein Dorf zieht, bekommt dort die einfachste Möglichkeit, mit den Menschen zusammenzukommen. Wer auf dem Lande Urlaub macht, findet hier Ansprechpartner, Hilfe und Tipps. Wer sich auf der Durchreise oder bei einem Ausflug stärken will, bekommt hier etwas Regionales zu essen und zu trinken. Kneipen sind soziale Medien – an Theken und Stammtischen geht es um Klatsch und Tratsch, aber auch um Fakten und Meinungen, um sozialen Austausch, um Geselligkeit. Sie sind der Ort für Familienfeiern, ihre Säle geben der Kultur einen Raum.
Die Bayern, bekannt für ihren sensibleren Umgang mit Tradition und Moderne, lassen sogar Wissenschaftler den Wandel der Wirtshauskultur untersuchen. Die Ergebnisse der Studie schockierten die weiß-blaue Herrlichkeit: Demnach hat sich die Zahl der Wirtshäuser seit 1980 in Bayern fast halbiert, 137 Gemeinden haben kein Lokal mehr. Prof. Hans Hopfinger vom Lehrstuhl für Kulturgeografie an der Katholischen Universität in Eichstätt hat einen Satz vor Ort immer wieder gehört: „Wo die Wirtschaft stirbt, stirbt der Ort.“
Man kann es auch positiv angehen – und den nächsten Kneipenbummel zur guten Tat aufwerten.
Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne „Hamburger KRITiken“ jeden Montag Hamburg und die Welt